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Brexit, die EU und die Arbeiterklasse: Und die linke Alternative?

Jeremy Corbyn und die europäische Linke müssen endlich in den Ring steigen

von Stephan Kimmerle, Seattle

Kommt der Brexit? Hart, soft oder später? Oder gar nicht? Jenseits der Spekulationen: Was nun bevorsteht, ist entweder das größte Projekt von ökonomischem Nationalismus mit drohenden verheerenden Auswirkungen auf eine in Europa integrierte britische Wirtschaft. Oder es kommt ein U-Turn, der Brexit wird verzögert, abgesagt und die Allmacht der Finanzmärkte und ihrer neoliberalen Projekte scheint sich zu verewigen. Zumindest würde die Behauptung gestärkt, es gebe keine Alternative zur Unterordnung unter die letztlich vom deutschen Kapital diktierten EU-Bedingungen.

Es gab durchaus gute Gründe für sozialistische Gruppen, 2016 für den Brexit zu werben und darum zu kämpfen, dieser britischen Revolte gegen das Establishment einen linken Inhalt zu geben. 2018 bleibt allerdings zu bilanzieren, dass die Debatten über drei Jahre hinweg von den rechts-nationalistischen Unterstützern des Brexit einerseits und den Sprechern der neoliberalen Finanzmogule Londons und des Rests von Europa andererseits geprägt blieben.

Jeremy Corbyn, linker Führer der Labour-Party und potentieller Premierminister, hat es versäumt, offensiv seine Vorstellungen zu formulieren. Die britische Arbeiterklasse war und ist tief gespalten in Sachen Brexit. Ganz schön verfahren.

Politische Ökonomie Europas

Die Integration Europas wurde über die letzten Jahrzehnte weiter vorangetrieben. Dies geschah sehr einseitig unter der Herrschaft der Finanzmärkte, seit der »Großen Rezession« 2007/08 unter 60 Jahre nicht gekannter deutscher Vorherrschaft. Mit radikalen Auswirkungen auf die Menschen in Griechenland und anderen Staaten außerhalb der Kernmächte Europas. Auf Kosten der Umwelt, da zum Beispiel Transport und CO2-Fußabdrücke im entfesselten Binnenmarkt kaum eine Rolle spielten. Um den Preis von wachsenden Unabhängigkeitsbestrebungen und wachsendem Nationalismus gegen die Zwangskräfte der Unterordnung unter die vereinheitlichten Märkte.

Doch gleichzeitig ist es mehr als Propaganda der Herrschenden, dass die nötigen Teile zur Produktion eines Autos der Marke Mini, Teil des deutschen BMW-Konzerns, viermal den Ärmelkanal überqueren, bevor der Mini auf dem Kontinent verkauft wird. Eine Trump-artige Politik des ökonomischen Nationalismus hätte verheerende Auswirkungen für die Arbeitenden, nicht nur in den Autowerken.

Solange die dominante Wirtschaftspolitik in Europa unter dem Regime des deutschen und zum Teil des französischen Imperialismus stattfindet, solange der Euro, die Währungs- und die Zollunion zentrale Mittel dieses Blocks bleiben, solange ist der Verlust des Zugangs zu Märkten, Wirtschaftsbeziehungen und Finanztransaktionen ein reales Problem.

Griechenland 2012 bis 2015

Diese ökonomische Macht spielt die EU unter Berliner Regie voll aus. Die Angst der Lohnabhängigen und Armen in Griechenland, aus dem Euro geworfen zu werden, war real und berechtigt. Der deutsche Imperialismus und seine damalige Regierung war 2015 darauf vorbereitet, Griechenlands Mitgliedschaft in Euro und EU von heute auf morgen zu beenden. Die darauf folgende Kapitulation von Syriza war der Kanzlerin Merkel und ihrem damaligen Finanzminister Schäuble sicherlich noch lieber als ein solches Experiment. Klar war jedoch, dass andernfalls ein Exempel gegen eine aufbegehrende linke Regierung hätte statuiert werden sollen.

Es ging nicht nur um die ökonomischen Kosten, die auf die EU zugekommen wären. Es ging darum, europaweit einer demokratischen Entscheidung, eine linke Regierung zu wählen, den Riegel vorzuschieben. Möglich schienen damals zum Beispiel auch Anti-Austeritätsregierungen in Spanien unter Führung von Podemos und eine Keynesianismus versprechende Sinn-Feinn-Regierung in der Republik Irland.

Katalonien 2017

Dabei produziert die Zwangsvereinigung Europas und der Zwangszusammenhalt seiner Staaten unter dem Recht des Stärkeren – mit verordneter Austerität und Konkurrenz zwischen den Ärmsten – immer wieder Rebellionen. Die dynamischsten Teile der Jugend und der Arbeiterklasse in Katalonien forderten 2017 die Unabhängigkeit vom Spanischen Staat. Eine Revolte mit Massendemonstrationen, Studierendenstreiks und Streiks der Gewerkschaften brach sich Bahn.

Doch die Konzerne hatten eine klare Antwort. Verlagerungen, Wirtschaftsboykott und soziale Unsicherheit wurden nicht nur vage diskutiert. 2.700 Unternehmen hatten bis Ende November 2017 ihre Firmensitze aus Katalonien abgezogen (Washington Post, 30.11.2017). Die EU drohte mit der Abkopplung Kataloniens.

Die Arbeiterklasse war, ähnlich wie beim Brexit, gespalten. Die Arbeitenden bei Seat in der Nähe von Barcelona, Teil des deutschen Volkswagen-Konzerns, nahmen zum Beispiel keineswegs am Generalstreik für die Unabhängigkeit teil. Die »schweren Bataillone« der Industriearbeiterschaft fürchteten um die Folgen einer Entkopplung der katalanischen Wirtschaft von der integrierten globalen Ökonomie und speziell der des europäischen Kontinents.

Ist die EU reformierbar?

In seinem im Dezember 2018 auf Englisch erschienen Buch, »The Left Case against the EU«, schreibt Costas Lapavitsas: »Die EU und [die Währungs- und Wirtschaftsunion] EWWU sind keine neutrale Zusammenstellung
von Regierungsgremien, -institutionen und -praktiken, die potentiell jeder sozio-politischen Kraft, Partei oder Regierung dienen könnten, basierend auf ihrer relativen Stärke. Im Gegenteil, sie sind strukturiert gemäß der Interessen Kapital gegen Arbeit. Sie wurden auch graduell zunehmend darauf ausgerichtet, den wirtschaftlichen Vorteilen und damit der internationalen Zielrichtung einer bestimmten dominanten Klasse zu dienen, vor allem den deutschen industriellen, exportorientierten Kapitalisten.«

Lapavitsas war von Januar bis August 2015 Abgeordneter im griechischen Parlament für Syriza. Nach Syrizas Kapitulation gegenüber den kapitalistischen Mächten in Europa verließ er die Partei und schloss sich der neu formierten Partei Volkseinheit an. Lapavitsas argumentiert sehr überzeugend, dass es ein fundamentaler Fehler der Syriza-geführten Regierung war, anzunehmen, ein grundlegender Wandel im Interesse der Arbeiterklasse könne im Rahmen der Europäischen Union und ihrer Institutionen gewonnen werden.

Die Realität ist, da hat Lapavitsas recht, dass eine Politik im Interesse der Arbeiterklasse letztlich nicht im Rahmen der EU möglich ist. (Das heißt nicht, dass es im Rahmen der EU nicht auch Verbesserungen geben kann.) Was er – in seinem dennoch sehr lesenswerten Buch – nicht würdigt: Die Realität ist auch, dass eine Politik im Interesse der Arbeiterklasse außerhalb der EU, in einem kapitalistischen Nationalstaat, der sich mit der Macht der EU konfrontiert sieht, letztlich ebenso wenig möglich ist.

Was könnte Corbyn tun?

Soll die Arbeiterklasse Großbritanniens und in ganz Europa nicht für einen Brexit zahlen, so muss um beides gekämpft werden: Dass eine Regierung das Recht hat, in einem Land Politik im Interesse der Arbeiterklasse zu machen und trotzdem vollen Zugang zur integrierten Wirtschaft behalten kann.

Das heißt, sich erstens für eine Beibehaltung einer Zollunion mit Großbritannien und allen EU-Staaten (keine Grenzen auf der irischen Insel und auch nicht zwischen Nordirland und Britannien) auszusprechen – aber ohne jegliche Einschränkung, soziale Politik im Interesse der Arbeiterklasse betreiben zu können. Eine zukünftige Corbyn-Regierung sollte unbedingt ihr Versprechen umsetzen, die Eisenbahnen wieder zu verstaatlichen. Auch um gegen die Auswirkungen eines Brexit gewappnet zu sein, sollten die großen Konzerne demokratisch kontrolliert und gemanaget werden. In was für einer rechtlichen Beziehung auch immer Großbritannien zu einem solchen Zeitpunkt mit der EU stehen wird, wir können sicher sein, dass eine solche Politik gegen deren neoliberal geprägte Regeln massiv verstößt.

Die rechten Regierungen in Ungarn und Polen machen allerdings aus einer anderen Richtung vor, dass der Verstoß gegen EU-Verträge nicht das Ende vom Lied ist. Dann beginnen die Auseinandersetzungen erst. Für eine linke Regierung ist das ungleich schwerer. Die europäische Linke müsste eine Auseinandersetzung darum führen, dass eine Politik im Interesse der Arbeitenden und Armen nicht mit wirtschaftlichen Vergeltungsmaßnahmen beantwortet wird.

Um dies zu erreichen, müsste eine linke Regierung in Großbritannien die bisherige Front der EU-Länder gegen Großbritannien aufbrechen. Daher sollte Corbyn zweitens fordern, dass alle Länder der EU im Rahmen dieser neuen Zollunion mit Großbritannien die neoliberalen Regelungen wie die Maastricht-Kriterien aussetzen können. Fast jede*r Beschäftigte in Europa weiß, dass eine Neuregelung der Verhältnisse in Europa im Interesse der Arbeitenden wäre. Corbyn könnte daraus die Schlussfolgerungen öffentlich und klar ziehen. Und drittens sollte Corbyn verlangen, dass ein drastischer Schuldenschnitt für alle Länder dieser zukünftigen Zollunion erfolgen muss, um die Umverteilung zugunsten der Banken und die Dominanz der Finanzmärkte über politische Entscheidungen zu beenden.

Eine Corbyn-Regierung könnte so ganz andere Verhandlungen mit Berlin und Brüssel führen als die bisherige Regierung von Theresa May. Der Druck auf die Regierungen in Athen, Dublin, Madrid und Rom würde massiv erhöht, und nicht nur aus London. Eine internationale Kampagne der Linken, zum Beispiel zur Europawahl, könnte eine reale Alternative aufzeigen.

Forderungen an die EU?

Lapavitsas fordert in seinem Buch: »Wenn die Linke radikale anti-kapitalistische Konzepte umsetzen und effektiv den neoliberalen Moloch der EU konfrontieren will, dann muss sie auf einen Bruch vorbereitet sein. Es muss eine Zäsur geben, einen Aufruhr, eine Umkehrung der vorherrschenden Bedingungen, um in Europa die Dinge zu ändern. Es muss einen Bruch mit den heimischen Machtstrukturen geben, deren Interessen in den gegenwärtigen Regelungen verankert sind. Es muss auch einen Bruch geben mit den transnationalen Institutionen der EU, die die gegenwärtigen Regelungen aufrechterhalten.«

Eine sozialistische Politik von Corbyn würde zu einem solchen Bruch führen – und es ist gut, darauf vorbereitet zu sein. Die Institutionen der EU sind nicht dafür geschaffen, dabei däumchendrehend zuzuschauen.

Allerdings ist eine lautstarke Ansage des Bruchs weder überzeugend noch ausreichend. Nur ein Kampf darum, bei jedem Schritt auf dem Weg zu einer sozialistischen Veränderung die Interessen von Arbeitenden, Unterdrückten und Armen zu schützen, hat eine Chance, die tief gespaltenen Fronten innerhalb der unteren Klassen zu überwinden und eine fundamentale Veränderung tatsächlich in Angriff zu nehmen.

Um vor allem das Bewusstsein der arbeitenden Klasse in Europa endlich wieder aus der Vorstellung der Alternativlosigkeit von Kapitalismus und EU zu heben, ist der Kampf um wirkliche Verbesserungen der erste Schritt. Gerade wer für eine freiwillige, sozialistische Föderation von Arbeiterstaaten in Europa kämpfen will, sollte – in vollem Bewusstsein, dass die EU letztlich nicht reformierbar ist – für eine radikale Reform der EU kämpfen. Denn das Problem der EU wird man auch mit einem Austritt nicht los.

Mit einem solchen Ansatz könnte die Linke in den Debatten, die den europäischen Kontinent im Griff haben, endlich wieder stattfinden.