Wie sich osteuropäische Lkw-Fahrer auf einer
Raststätte bei Darmstadt für ihre Rechte einsetzen
von Daniel Behruzi
Daniel Behruzi ist freiberuflicher Journalist und ver.di-Vertrauensleutesprecher an der TU Darmstadt.
» Wir wollen unser Geld«, sagt Giorgi Gelaschwili (Name geändert). Der 22-jährige Lkw-Fahrer aus Georgien steht am 4. April mit über 60 seiner Kollegen in Gräfenhausen bei Darmstadt. Die blauen Laster der polnischen Firmengruppe Mazur parken in einer langen Reihe auf dem Autobahnrastplatz, und das schon seit Wochen. Die Beschäftigten wollen nicht weiterfahren, bis ihr Chef ausstehende Löhne komplett bezahlt.
Durch ihren mutigen Protest haben die Fahrer aus Georgien, Usbekistan und Tadschikistan ihre Interessen durchgesetzt – und die miserablen Arbeitsbedingungen auf deutschen Straßen in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit gerückt.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserem Magazin, Lernen im Kampf, Nr. 10.
Begonnen hat es mit der plötzlichen Ankündigung des Unternehmens, den Sonntag nicht mehr zu bezahlen. Dabei liegt der Lohn von etwa 80 Euro am Tag ohnehin weit unter dem deutschen Mindestlohn, der auch den osteuropäischen Fahrern zusteht. Sie stoppen daraufhin und kommen an verschiedenen Rasthöfen zusammen, unter anderem in Südtirol und in der Nähe von Basel. Diese Versammlungen sind mittlerweile aufgelöst, ein Teil der Streikenden ist nach Darmstadt weiter gezogen.
»Ich stand zehn Tage in Vipiteno«, berichtet ein Fahrer, der eine Trainingsjacke mit dem Schriftzug »ITALIA« trägt. Doch die italienische Polizei habe ihn und seine Kollegen fortgejagt, daraufhin sei er über den Brenner gefahren und habe sich der Versammlung am Rasthof Gräfenhausen angeschlossen.
Angriff im Panzerwagen
Dass alle Streikenden auf dem Rastplatz an der A5 zusammenkommen, dient auch dem Selbstschutz. Denn von Beginn an werden sie von ihrem »Arbeitgeber« bedroht und drangsaliert. Einer breiteren Öffentlichkeit werden diese frühkapitalistischen Brachialmethoden am 7. April bekannt, als ein gepanzertes Fahrzeug und einige Bullis in Gräfenhausen vorfahren. Männer in kugelsicheren Westen mit der Aufschrift »Rutkowski Patrol« springen heraus. Sie bedrängen die Fahrer, versuchen, die Türen der Lastwagen aufzureißen. Die Streikenden wehren sich, es kommt zu Rangeleien. Als die herbeigeeilte Polizei die uniformierten und teilweise vermummten Schläger zurückdrängt und schließlich zusammen mit ihrem Chef verhaftet, klatschen die Fahrer euphorisch.
»Dass der Inhaber der Spedition einen paramilitärischen Schlägertrupp inklusive Panzerfahrzeug nach Deutschland schickt, um mit martialischer Bedrohung einen Protest von LKW-Fahrern zu beenden, ist ein ungeheuerlicher Vorgang«, kommentiert Stefan Körzell vom Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstand, der während des Vorfalls vor Ort ist.
Ende März war bereits der erste Versuch gescheitert, den Streikenden ihre Lastwagen wegzunehmen. Der Unternehmer war zusammen mit einem Minibus voller Ersatzfahrer aus Polen angereist, die den Streik brechen sollten. Doch diese weigerten sich, ihren streikenden Kollegen in den Rücken zu fallen.
Der Chef zog unverrichteter Dinge wieder ab und kam eine Woche darauf mit dem Schlägertrupp wieder. Erreicht hat er damit vor allem eins: Den Streik überregional bekannt zu machen. Auch in der Politik wird der systematische Gesetzesbruch auf deutschen Straßen dadurch zum Thema. Am 18. April debattiert das Europaparlament über den Fall. Politiker*innen von links über sozial- bis christdemokratisch stellen sich hinter die Fahrer und fordern bessere Arbeitsbedingungen im Fernverkehr.
Gesetze werden in der Branche systematisch ignoriert
Dabei weisen Organisationen wie das DGB-Beratungsnetzwerk »Faire Mobilität« schon seit langem auf die Missstände in der Branche hin. So werden Arbeitsschutzgesetze systematisch ignoriert. Hinzu kommen unerträgliche Bedingungen auf den Raststätten, zum Beispiel fehlende oder überteuerte Sanitäranlagen. Letzteres Problem hat sich durch die 1998 erfolgte Privatisierung der Autobahnraststätten massiv verschärft. Die Tank&Rast-Gruppe, die Versicherungs- und Investmentgesellschaften gehört, hat an deutschen Autobahnen ein weitgehendes Monopol. Unter ihrer Abzocke leiden besonders Berufsfahrer*innen.
Im Zuge der Einführung des »Just-in-time«-Systems haben Produktionsunternehmen ihre Lager größtenteils aufgelöst und auf die Straße verlagert. Sie lassen ihre Waren über ein verschachteltes System von Sub- und Sub-Sub-Unternehmen transportieren, die auf Kosten der Beschäftigten einen Preiskampf ausfechten. So fehlt in vielen Frachtpapieren der Kollegen in Gräfenhausen ihr eigentlicher Arbeitgeber.
Auf Nachfrage erklären Konzerne wie DHL und Ikea, sie hätten keine direkten Vertragsbeziehungen zu Mazur. Sie entledigen sich so der Verantwortung für Fracht und Fahrer*innen. Wohlklingende Verhaltensrichtlinien der Unternehmen oder der Global Compact der Vereinten Nationen, der Arbeitnehmerrechte entlang der Wertschöpfungskette garantieren soll, helfen den Beschäftigten am Ende der Kette nicht. Und der Staat kontrolliert fast nie, ob Mindestlohn- und Arbeitsschutzgesetze eingehalten werden.
Welle der Solidarität
Der Streik der Trucker in Gräfenhausen wirft ein Schlaglicht auf diese Zustände. Zugleich zeigt er: Sie sind nicht wehrlos. Durch ihre spektakuläre Aktion haben sie nicht nur eine enorme Aufmerksamkeit erregt, sie haben letztlich auch ihren Chef zum Einlenken gezwungen. Nach fünf Wochen Streik überweist Mazur zunächst knapp 200.000 Euro und knickt schließlich ganz ein.
Ende April, zu Redaktionsschluss, sichert das Unternehmen schriftlich zu, alle ausstehenden Forderungen zu begleichen. Die Fahrer wollen die Lkw freigeben, sobald das Geld auf ihren Konten eingeht.
» Die Fahrer haben Deutschland und Europa aufgezeigt, was in der Branche vor sich geht«, erklärt Edwin Atema von der niederländischen Gewerkschaft FNV, den die Streikenden zu ihrem Verhandlungsführer bestimmt hatten. Sie seien von ihrem Chef wie Tiere behandelt worden »und haben wie Löwen gekämpft und gewonnen«.
Dass das möglich war, ist auch der Welle von Solidarität für die Fahrer zu verdanken. Gewerkschafter*innen aus der Region bringen nahezu täglich Essen vorbei, Aktive des DGB-Beratungsnetzwerks »Faire Mobilität« helfen bei der Kommunikation mit Behörden und Gesundheitseinrichtungen, andere sammeln Geld für die Streikenden. Sogar aus Südkorea haben tausende, in der Gewerkschaft KPTU organisierte Lastwagenfahrer per Video eine Solidaritätsbotschaft nach Südhessen gesandt. Gestärkt durch diese Unterstützung haben die Kollegen durchgehalten. Als ihr Erfolg bekanntgegeben wird, skandieren sie in Richtung des mafiösen Unternehmers »Schach–matt!«
Infos und Spendenaufruf: tinyurl.com/soli-graefenhausen