Joe Bindens erste 100 Tage im Präsidentenamt zeigen, wie weit sich die Stimmung und Erwartungshaltung der arbeitenden Menschen in den USA nach links bewegt hat
von Ty Moore, Tacoma
Ty Moore ist Chefredakteur von Reform & Revolution, dem Magazin der gleichnamigen marxistischen Plattform in den DSA (Democratic Socialists of America).
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Noch vor wenigen Monaten hoffte das Establishment der Demokraten, dass mit der Wahl von Joe Biden und dem Ende der Pandemie eine Rückkehr zur Normalität Einzug halten würde. Das war ja auch tatsächlich das zentrale Versprechen in Bidens Wahlkampf. Doch die Entwicklungen im letzten Jahr brachten einige grundlegende Widersprüche im globalen Kapitalismus zum Vorschein.
Das Wachstum sozialistischer und linker Ideen ist heute ein wichtiger Faktor, mit dem sich Biden konfrontiert sieht
Die Gesellschaft in den USA befindet sich an einem Wendepunkt. Drei Entwicklungen sind dabei aktuell besonders greifbar:
(1) Nach vier Jahrzehnten Dominanz verabschiedet sich der Neoliberalismus. Diese Transformation wird einerseits durch die Unzufriedenheit der Bevölkerung, andererseits durch eine sich lange entwickelnde Krise des neoliberalen Regimes der Kapitalakkumulation selbst forciert.
(2) Der soziale Aufruhr gegen systemischen Rassismus hält an. Dies ist derzeit der schärfste Ausdruck eines umfassenderen Radikalisierungsprozesses in der Gesellschaft.
(3) Die humanitäre Krise an der südlichen Grenze der USA spitzt sich zu. Biden hält an vielen Aspekten des Grenzregimes von Trump fest. Das entfremdet Aktivistinnen für Migrantenrechte und Linke, und ermöglicht es den Rechten, ihre Hetze gegen Flüchtlinge zu verstärken.
(1) Biden wird nach links gedrückt
Biden wandelte sich in den letzten Monaten von einem lebenslangen Unterstützer des Neoliberalismus zu einem pragmatischen Präsidenten, der bestimmte neo-keynesianische Maßnahmen umsetzt. Biden und die Führung der Demokratischen Partei ringen um neue Antworten, um die Folgen der Covid-Pandemie zu bewältigen. Das Scheitern der neoliberalen Politik des freien Marktes zwang die letzten US-Regierungen, mit staatlichen Maßnahmen einzugreifen und Billionen von Steuergeldern auszugeben, um die kapitalistische Wirtschaft der USA anzukurbeln.
Das politische Kalkül der führenden Demokratinnen für ihre Konjunkturpakete und Vorschläge zu gewerkschaftsfreundlicheren und bürgerrechtsorientierteren Maßnahmen beruht auf der Angst, die Fehler zu wiederholen, die sie während der Obama-Regierung gemacht haben. Damals stießen sie Wählerinnen aus der Arbeiterklasse vor den Kopf, indem sie die Wall Street retteten, zu wenig ausgaben, um die Wirtschaft anzukurbeln, und faule Kompromisse mit Republikanern schlossen. Diese »Fehler« stimmten voll und ganz mit der neoliberalen Orthodoxie überein, die die Demokratische Partei seit der Regierung von Bill Clinton implementierte. Vor dem Hintergrund der »Großen Rezession«, der Krise 2007/08, führte diese Politik der Demokratischen Partei in den Jahren 2010 bis 2016 zu Wahlerfolgen der mehr und mehr rechtspopulistischen Republikaner, zunächst der »Tea Party«-Bewegung, dann von Donald Trump und seinen Unterstützerinnen.
Auf der Linken führte das offensichtliche Scheitern der neoliberalen Politik sowie die rechtspopulistische Antwort darauf durch Trump und Co zum Aufstieg von Bernie Sanders, dem das Anwachsen der Democratic Socialists of America (DSA) auf nunmehr knapp 95.000 Mitglieder folgte, sowie zu wachsenden sozialen Protestbewegungen.
Das signifikante Wachstum sozialistischer und linker Ideen ist heute ein wichtiger Faktor, mit dem sich die Führung der Demokratischen Partei und Biden selbst konfrontiert sehen.
(2) Aufruhr gegen Rassismus
Eine zweite wichtige Entwicklung in den USA ist die historische Welle der Proteste gegen Polizeigewalt, Black Lives Matter (BLM). Die Verurteilung des Polizisten, der vor einem Jahr in Minneapolis George Floyd umgebracht hat, war ein Erfolg dieser Bewegung. Ein Großteil der herrschenden Klasse hoffte, dass die Verurteilung dieses Polizeibeamten, Derek Chauvin, einen Teil der Wut unterdrücken und die Idee bekräftigen würde, dass »das Justizsystem funktioniert«.
Doch während des gesamten Prozesses gegen Chauvin tötete die Polizei weiterhin durchschnittlich drei Zivilistinnen pro Tag, wie die schrecklichen Morde an Daunte Wright in einem Vorort von Minneapolis und dem 13-jährigen Adam Toledo in Chicago belegen. Viele Menschen feierten zu Recht die Verurteilung von Chauvin. Gleichzeitig haben die sich fortsetzenden Tötungen durch die Polizei das Gefühl verstärkt, dass das gesamte System Schuld ist, nicht nur Chauvin und ein paar Einzelfälle und -personen innerhalb der Polizei. Biden hat zwar eine historisch große Zahl an People of Color in seine Administration geholt, dennoch lehnen er und andere moderate Demokratinnen die Aufrufe der BLM-Bewegung klar und explizit ab, die Polizeibudgets deutlich zu kürzen (»defund the police«) und stattdessen in soziale Sicherheit zu investieren. Die herrschende Klasse weiß um die Notwendigkeit dieser Polizei zur Aufrechterhaltung der Ungleichheit, auf der ihre soziale Ordnung beruht.
Dies verdeutlicht für einen Teil der BLM-Aktivistinnen den Zusammenhang zwischen Rassismus und einem politischen und wirtschaftlichen System, das von einer überwiegend weißen kapitalistischen Elite dominiert wird. Viele junge Menschen erkennen zunehmend, dass nur eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft ein solches System beenden, Reparationen zahlen kann, um historische Wunden zu heilen, die schwarzen, indigenen und anderen Gemeinschaften zugefügt wurden, dass nur so ein menschenwürdiges Leben für alle erkämpft werden kann.
Es ist etablierten Kräften allerdings gelungen, die Aktivistinnen etwas von der breiteren Gesellschaft zu isolieren. Die Herrschenden haben die Befürchtung geschürt, dass Aufrufe der Demonstrantinnen, die Polizeibudgets zusammen zu streichen und die Polizei abzuschaffen (»defund« und »abolish«) zu einer Zunahme von Kriminalität führen würden. Eine zentrale Herausforderung für die BLM-Bewegung besteht darin, sich auf eine Reihe klarer politischer Forderungen zu konzentrieren, die die Sympathie der überwiegenden Mehrheit für die Proteste in eine anhaltende Massenbewegung übertragen können. Die Forderung nach Kürzung der Polizeibudgets muss mit Forderungen nach Beendigung von Armut, Mangel an bezahlbarem Wohnraum und Arbeitslosigkeit verbunden werden – der Bedingungen, die zu Kriminalität in Communities der Arbeiterklasse führen. In diesem Zusammenhang besteht für die DSA das Potenzial, in Koalitionen mit anderen Organisationen und Aktivistinnen spezifische Forderungen in Bezug auf die Rechenschaftspflicht der Polizei, nach Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und anderen sozialistische Forderungen zu verbreiten.
Die Verurteilung des Polizisten, der vor einem Jahr George Floyd umgebracht hat, war ein Erfolg der BLM-Bewegung
(3) »Es ist keine Grenzkrise. Es ist eine imperialistische Krise«
Eine dritte wichtige Entwicklung ist die Welle von Migrantinnen, die vor extremer Armut, Dürre und allgegenwärtiger Gewalt in Lateinamerika fliehen. Das stellt sich als ernsthafte politische Herausforderung für Biden heraus. Auf der politischen Rechten nutzen die Republikaner die tiefen wirtschaftlichen Ängste vieler Menschen, um nationalistische Ängste vor Einwanderinnen weiter zu schüren. Dabei geht es um Arbeit, bezahlbaren Wohnraum und andere soziale Dienstleistungen.
Auf der Linken steigt die Wut über die überfüllten Gefängnisse, die begrenzte Anzahl von Flüchtlingen, denen die Einreise gewährt wurde, und die militarisierte Reaktion auf Asylsuchende.
Biden wird allgemein dafür kritisiert, dass er große Teile der Einwanderungspolitik von Trump fortgesetzt hat. Politisch aktive Menschen erinnern sich gut daran, dass die Obama-Regierung mehr Migrantinnen abgeschoben hat als jede frühere Administration.
Im März wies Alexandria Ocasio-Cortez auf die Hauptursachen der Probleme hin: »Es ist keine Grenzkrise. Es ist eine imperialistische Krise. Es ist eine Klimakrise. Es ist eine Handelskrise … und es ist auch eine Krise des Gefängnissystems … Selbst während dieser Amtszeit und dieses Präsidenten [Biden] basiert unser Einwanderungssystem auf unserem Gefängnissystem und ist daraufhin ausgelegt.«
AOC hat recht. Beschäftigte aus der Landwirtschaft fliehen aus ihren Heimatländern aufgrund von Dürren, die durch die globale Erwärmung und neoliberale imperialistische Handelspolitik, die einheimische Landwirte bankrott macht, verursacht wurden. Mig-rantinnen kommen nach rechtsgerichteten Staatsstreichen, die von den USA unterstützt werden. Imperialismus in all diesen Formen führt zu Armut und unter diesen Bedingungen zu einem schrecklichen Anstieg der Bandengewalt. Wer würde nicht versuchen, solchen unerträglichen Bedingungen zu entkommen?
Die DSA steht in Solidarität mit diesen Migrantinnen. Wir lehnen rassistische Versuche ab, sie abzuweisen. Um Grundrechte und Ressourcen für Migrantinnen gewinnen zu können, sollte die Linke verlangen, dass Konzerne und Unternehmerinnen, die Arbeitsmigrantinnen ausbeuten, für angemessene Löhne, Arbeitsbedingungen, Wohnraum und Gesundheitsversorgung zahlen – nicht nur für Arbeitsmigrantinnen, sondern für alle Beschäftigten, einschließlich der in diesem Land geborenen Arbeiterinnen.
Nur eine Strategie, die die Arbeiterklasse über ethnische und nationale Grenzen hinweg gegen unsere gemeinsamen Ausbeuter*innen vereint, kann Argumente widerlegen, dass dieses Land nicht über genügend Ressourcen für alle verfüge.
Es ist spannend zu sehen, wie die DSA auf fast 95.000 Mitglieder wächst. Um diese rassistischen, wirtschaftlichen und ökologischen Herausforderungen zu bewältigen, muss eine sozialistische Organisation aufgebaut werden, die in der Arbeiterklasse verwurzelt ist und alltäglichen Aktivismus mit politischer Bildung bezüglich sozialistischer und marxistischer Ideen verbindet.
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Klimagerechtigkeit
Bidens Vorschläge zur Bekämpfung des Klimawandels stehen im Einklang mit den Versprechen anderer Regierungen auf der ganzen Welt und umfassen die vom Bericht des Zwischenstaatlichen Gremiums für Klimawandel (IPCC) 2018 geforderten Ziele – eine Zusage von Netto-Null-Emissionen bis 2050 und erhebliche Reduzierungen bis 2030. Diese sind erforderlich, soll es noch gelingen, die globale Erwärmung auf oder unter 1,5 Grad zu begrenzen. Die Biden-Regierung vergleicht ihre Ziele allerdings mit dem Emissionsausstoß von 2005, während die meisten EU-Länder 1990 als Referenzwert verwenden. Dies bedeutet, dass die Ziele der USA rund 40 Prozent weniger ambitioniert sind, als es ein Basiswert von 1990 verlangen würde.
Trotzdem markiert Bidens Politik eine drastische Veränderung nicht nur gemessen an Trumps Politik, sondern auch gegenüber der Obama-Administration. Die USA haben wirksame internationale Abkommen stets blockiert und das »Recht« des US-Kapitalismus auf Umweltverschmutzung verteidigt. Dies war auch Praxis unter Obama – zur Überraschung der Menschen, die nach George W. Bushs Präsidentschaft auf eine andere Politik gehofft hatten.
Zumindest scheint es jetzt ein gewisses Maß an signifikanten Veränderungen zu geben. Einerseits ist dies ein Sieg der Klimabewegung in den USA und international, der zeigt, dass wir Reformen erreichen können. Andererseits ist der Biden-Plan noch sehr weit von dem entfernt, was tatsächlich benötigt wird. Das IPCC-Ziel ist ein globales Ziel, was bedeutet, dass wohlhabende Länder die Verantwortung haben, schärfere Ziele zu setzen. Darüber hinaus haben die USA als historisch führender Emittent von Treibhausgasen die besondere Verantwortung, ihren enormen Reichtum und ihre Ressourcen zu nutzen, um Ländern des globalen Südens zu helfen, ihre Wirtschaft schnell zu dekarbonisieren und bis 2050 bei der Erreichung der Null-emissionen zu unterstützen.
Ein weiteres Problem ist, dass das IPCC-Ziel von Netto-Null bis 2050 auf negativen Emissionen (Kohlenstoffentfernung aus der Atmosphäre) beruht. Die Technologie dazu und die sichere massenhafte Speicherung von Kohlenstoff steht bislang keineswegs zur Verfügung. Die IPCC-Formulierungen selbst setzen also auf Lösungen, die möglicherweise gar nicht zustande kommen. Und selbst wenn diese Ziele erreicht würden und die Kohlenstoffentfernung aus der Atmosphäre tatsächlich umgesetzt würde, so ließe dies der Welt nur eine 66-prozentige Chance, die globale Erwärmung unter 1,5 Grad zu halten. Die IPCC-Ziele berücksichtigen auch keine Rückkopplungsschleifen, wie die Erwärmung des Permafrosts und die damit verbundene Freisetzung großer Mengen Methan (eine Entwicklung, die bereits begonnen hat).
Die Wahrheit ist auch, dass die meisten Regierungen ihre erklärten Ziele selten erreichen, weil sie dem Druck des globalen kapitalistischen Wettbewerbs nachgeben, wobei die Gewinne »ihrer« Unternehmen Vorrang haben vor den ökologischen Bedürfnissen der Menschen auf diesem Planeten insgesamt.
Um die Dinge ins rechte Licht zu rücken: Um an dem Ziel festzuhalten, die globale Erwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen, berechnete das IPCC ein Budget von 420 bis 580 Gigatonnen Kohlendioxidemissionen, die ab 2018 maximal noch produziert werden dürften. Die Welt verbraucht im Moment rund 40 Gigatonnen Kohlendioxid pro Jahr, Tendenz (trotz kurzfristiger Reduzierung durch die Covid-Rezession) weiter steigend. So würde das Budget in ungefähr zehn Jahren aufgebraucht.
Die ökosozialistische Arbeitsgruppe der DSA fordert eine vollständige Dekarbonisierung der Wirtschaft bis 2030. Der Vorschlag der linken Abgeordneten im Repräsentantenhaus Alexandria Ocasio-Cortez (AOC) eines Green New Deal beinhaltet einen Zehnjahresplan zur Erreichung von null Emissionen. Der Begriff »climate justice« fasst den Ansatz von AOC und anderen zusammen, für einen Wandel zu kämpfen, bei dem die Arbeiterklasse und unterdrückte Menschen im Zuge der nötigen Transformation an erster Stelle stehen: Arbeitsplatzgarantien, Ernährungssicherheit und Gesundheitsversorgung für alle – all das ist Teil des Green New Deal. Und das beschreibt gut, was benötigt wird.