Anhaltende Proteste haben die Kräfteverhältnisse im Pflegebereich verschoben
von Daniel Behruzi, Darmstadt
Dieser Artikel erschien zuerst in der Februarausgabe unseres neuen Magazins.
Wann, wenn nicht jetzt? Diese Parole der Gewerkschaftsjugend hat selten besser gepasst als auf die aktuelle Situation in den Krankenhäusern.
Die seit Jahren anhaltenden öffentlichen Proteste für mehr Personal – insbesondere die Streiks an Unikliniken für Tarifverträge zur Entlastung – haben die Kräfteverhältnisse verschoben. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Pflege Top-Thema. Die Regierenden stehen unter Druck, ihren Lippenbekenntnissen für eine gute Versorgung endlich Taten folgen zu lassen. Sie tun das widerwillig und spielen auf Zeit. Darüber kann auch der simulierte Aktionismus von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) nicht hinwegtäuschen.
Die von ver.di geforderten verbindlichen Personalvorgaben in allen Bereichen der Krankenhäuser stehen immer noch aus. Doch die Chance für einen Bruch mit dem Neoliberalismus, der das Gesundheitswesen in die Krise gestürzt hat, ist da. Jetzt, nicht irgendwann.

Was ausgerechnet der konservative Hardliner Spahn bereits zugestehen musste, ist beachtlich. Seit Jahresbeginn werden zusätzliche Stellen und Tariferhöhungen in der Krankenhauspflege vollständig refinanziert. Das verändert die Kampfbedingungen auf zwei Feldern: Zum einen besteht die Chance, mit der lange geforderten finanziellen Aufwertung der Pflege ernst zu machen. Dass ver.di bei den Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst der Länder die Pflegetabelle um pauschal 300 Euro im Monat anheben will, ist in dieser Situation der richtige Schritt.
Die »Pflegepersonaluntergrenzen«
In lediglich vier »pflegesensitiven« Bereichen gelten ab 2019 Untergrenzen für die Personalausstattung:
- Intensivmedizin: tagsüber höchstens 2,5 (ab 2021 zwei) Patient*innen pro Pflegekraft, nachts maximal 3,5 (ab 2021 drei).
- Geriatrie und Unfallchirurgie: tagsüber höchstens zehn, nachts 20 Patient*innen pro Pflegekraft.
- Kardiologie: tagsüber höchstens zwölf, nachts 24 Patient*innen pro Pflegekraft.
Das »Pflegepersonalstärkungsgesetz«
- Krankenhäuser bekommen zusätzliche Pflegestellen, Tariferhöhungen in der Pflege und die Ausbildungsvergütung im ersten Ausbildungsjahr vollständig refinanziert.
- Krankenkassen und Kliniken sollen bis 2020 die Untergrenzen beim Pflegepersonal »weiterentwickeln« und auf Neurologie, Herzchirurgie und weitere Bereiche ausweiten.
- Ab 2020 werden die Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (DRG) herausgenommen und über ein eigenes Pflegebudget finanziert.

Zum anderen stehen betriebliche und tarifliche Konflikte um mehr Personal auf einer neuen Grundlage. Schon nach der Niederlage der Arbeitgeber an den Unikliniken Düsseldorf und Essen, wo sie im Sommer 2018 nach einem erbitterten Arbeitskampf Vereinbarungen zur Entlastung akzeptierten, war das Eis gebrochen. In der Folge konnte ver.di in Homburg und Augsburg Vereinbarungen erreichen, die das Ergebnis in NRW noch übertreffen. Jetzt, angesichts der garantierten Refinanzierung, könnte die Kompromissbereitschaft der Klinikleitungen noch einmal zunehmen – auch wenn kein Management eine Einschränkung seiner »unternehmerischen Freiheit« widerstandslos hinnehmen wird.

Jetzt gilt es, dran zu bleiben. Denn noch ist nichts Substanzielles gewonnen. Die Umsetzung der Tarifverträge zur Entlastung muss fast überall im Konflikt durchgesetzt werden. Die per Verordnung erlassenen Pflegepersonaluntergrenzen – mit denen zum Beispiel nachts in der Kardiologie eine Pflegekraft für 24 Patient*innen verantwortlich gemacht wird – nennt ver.di zu Recht »staatlich legitimierten Pflegenotstand«. Und obwohl Krankenkassen und Klinikbetreiber hinlänglich bewiesen haben, dass sie wirksame Vorgaben mit aller Macht verhindern wollen, werden ihre Funktionär*innen in der »Selbstverwaltung« erneut mit der Entwicklung von Untergrenzen beauftragt.
Selbst die für 2020 beschlossene Herausnahme der Pflegepersonalkosten aus den Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG) könnte sich als Systemwechsel auf Zeit erweisen. Denn das geplante Vergütungssystem ist eng an das DRG-Modell angelehnt. »Es kann mit geringem Aufwand in ein System von bundesweit einheitlichen Pflegepauschalen umgewandelt werden«, betont der Pflegeexperte Michael Simon von der Hochschule Hannover in einem Interview. Der Wissenschaftler sieht »deutliche Hinweise darauf, dass dies keine dauerhafte Abkehr vom DRG-System sein soll«.
Vorschnell Ruhe zu geben, wäre daher grundfalsch. Das Zeitfenster für Verbesserungen wird nicht ewig offen bleiben. Die betrieblichen, tariflichen und politischen Kämpfe um mehr Personal im Krankenhaus müssen weitergehen. Dann besteht die Chance, dem neoliberalen Umbau in diesem so wichtigen Bereich tatsächlich Einhalt zu gebieten.