Vom Ende des Neoliberalismus und der Schwierigkeit, ein neues, stabiles Regime der Kapitalakkumulation zu entwickeln
von Stephan Kimmerle, Seattle
»Es ändert das Paradigma«, sagte Joe Biden am 12. März und feierte die Verabschiedung des 1,9-Billionen-Dollar-Konjunkturpakets im Kongress. »Zum ersten Mal seit langer Zeit rückt diese Gesetzesvorlage die arbeitenden Menschen in dieser Nation an die erste Stelle.« Und tatsächlich, der größte Teil dieses Pakets wird tatsächlich in die Hände der Arbeiterklasse gelangen. Der Kolumnist der New York Times, David Brooks, schrieb: »Das ärmste Fünftel der Haushalte wird ein um 20 Prozent höheres Einkommen verzeichnen. Eine vierköpfige Familie mit einem berufstätigen und einem arbeitslosen Elternteil erhält Leistungen in Höhe von 12.460 US-Dollar. Die Kinderarmut wird halbiert.«
Bernie Sanders lobte das Paket, obwohl er sich bitter enttäuscht zeigte, dass die Anhebung des Mindestlohns auf 15 US-Dollar pro Stunde aus der Gesetzgebung herausgenommen wurde: »Für Menschen der Arbeiterklasse ist das das wichtigste Gesetz, das seit den 1960er Jahren verabschiedet wurde.«
Darüber hinaus schlägt Biden ein Infrastrukturprogramm in Höhe von zwei Billionen US-Dollar vor (den »American Jobs Plan«), auch, um auf die Klimakrise zu regieren. Er möchte zudem einige der Gesetze aus dem ersten 1,9-Billionen-Dollar-Paket wie das befristet eingeführte Kindergeld entfristen. Die Kosten dafür könnten sich für die nächsten zehn Jahre auf eine weitere Billion US-Dollar belaufen. Zusammengenommen umfassen diese Programme rund 4,9 Billionen US-Dollar, zusätzlich zu den unter Trump verabschiedeten unmittelbaren Corona-Hilfen von insgesamt 3,1 Billionen US-Dollar.
Die Abgeordneten der Demokratischen Partei im Repräsentantenhaus votierten auch für das PRO-Gesetz, das die Klassenbeziehungen zugunsten der Werktätigen auf vielfältige Weise neu definieren würde: Anti-gewerkschaftliche Gesetze in 27 Einzelstaaten der USA würden auf einen Schlag abgeschafft, Solidaritätsstreiks legalisiert, die Formierung von Gewerkschaften und das Erreichen eines Tarifvertrags vereinfacht und »Union Busting« verboten, wie zum Beispiel die Praktiken von Amazon, mit denen über die letzten Monate hinweg die Belegschaft des Vertriebszentrums in Bessemer, Alabama, terrorisiert wurden.
Ebenfalls von der Demokratischen Mehrheit im Repräsentantenhaus verabschiedet und an den Senat übersandt wurde ein Wahlgesetz, das die Praktiken in vielen Republikanisch kontrollierten Einzelstaaten beenden würde, die Wahlteilnahme von People of Color und ärmeren Menschen systematisch zu behindern.
Ist das eine Rückkehr reformerischer, klassisch sozialdemokratischer Politik, diesmal auf der anderen Seite des Atlantiks? Hat sich Joe Biden, der etablierte, neoliberale Politiker, zu einem Kämpfer der Arbeiterklasse entwickelt?
Nicht wirklich. Die Maßnahmen der Demokrat*innen sind bisher durchaus begrenzt:
1) Dies sind nach wie vor Hilfen für die Masse der Bevölkerung, die sich hauptsächlich auf einmalige Barzahlungen konzentrieren und nicht auf dauerhafte Bemühungen, qualitativ hochwertige Dienstleistungen für die Arbeiterklasse aufzubauen, wie öffentlich organisierte Kinderbetreuung oder kostenlose Gesundheitsversorgung. Dies ist deutlich weniger als das, was die Arbeiterbewegung in Westeuropa und insbesondere in den skandinavischen Ländern in den 1970er Jahren erreichen konnten (was den Kapitalismus immer noch nicht herausforderte und wo ein Großteil der Errungenschaften wieder zurückgenommen wurde).
2) Um viele dieser Maßnahmen zu bezahlen, nimmt die Biden-Regierung Schulden auf und holt das Geld nicht von der herrschenden Klasse. Die Infrastrukturpolitik soll US-Unternehmen fit machen, um mit China zu konkurrieren und klimafreundlicher zu sein, ohne ernsthaft Unternehmergewinne anzugreifen.
3) Es ist unwahrscheinlich, dass das PRO-Gesetz oder das Gesetz zu einer Bürgerrechtsreform der Wahlgesetze ohne einen bedeutend größeren Aufruhr von unten verabschiedet werden. Gemäßigte Pro-Wall-Street-Demokrat*innen verhindern bislang noch Mehrheiten für diese Gesetze im Senat und sie müssten darüber hinaus noch Maßnahmen unterstützen, die Blockade der Republikaner*innen im Senat zu überwinden.
Kurz gesagt, Biden stellt die Macht des US-amerikanischen Kapitals nicht in Frage. Der Reichtum des obersten Prozent in den USA, der reichsten Menschen in der Geschichte der Menschheit, bleibt unberührt.
Für die Linke wäre es dennoch ein Fehler, die Auswirkungen dieser Veränderungen auf die kurzfristigen Lebensbedingungen der Werktätigen zu übersehen oder die Möglichkeiten zu ignorieren, die sich dadurch eröffnen, um für einen dauerhaften, grundlegenden Wandel und eine sozialistische Politik zu kämpfen.
Seit den 1980er Jahren ist der Neoliberalismus in allen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern die vorherrschende Ideologie aller großen Parteien, von der konservativen Rechten bis zur modernisierten Sozialdemokratie. Bis 2008 war der Neoliberalismus auch das dominierende Mittel zur Durchsetzung eines bestimmten Regimes zur Kapitalakkumulation. Trotz unvermeidlicher Auf- und Abschwünge funktionierte dieses Regime der Kapitalakkumulation für die Kapitalistenklasse, insbesondere die mächtige Finanzindustrie. Dieses neoliberale Modell wurde jedoch durch den Wirtschaftseinbruch 2007/09 in eine Krise gestürzt, die weit über einen typischen Konjunkturzyklus hinausging.
Traditionelle Regierungsparteien in vielen Ländern Europas haben ihre Dominanz verloren, und im Allgemeinen sind sozialdemokratische Parteien im Niedergang begriffen. Das Vertrauen in etablierte Institutionen ist zusammengebrochen.
Die Menschen suchen nach neuen politischen Ideologien und Theorien. Dies drückt sich bisher in den Erfolgen für populistische Reaktionäre wie Trump und Bolsonaro einerseits und reformerische Sozialist*innen wie Bernie Sanders und Jeremy Corbyn andererseits aus.
Dies alles reflektiert die Instabilität, die das kapitalistische System aktuell durchlebt. Angesichts dieser Krise stolpern Biden und die herrschende Klasse vor sich hin und versuchen, einen Weg vorwärts zu finden.
Ohne ein glaubwürdiges politisch-wirtschaftliches Paradigma stehen Vertreter der herrschenden Klasse einerseits unter dem Druck der Rechten, die auf ökonomischen Nationalismus setzen. An vielen Stellen setzt Biden Trumps Kurs auch einfach nur fort. Andererseits steht Biden unter dem Druck der Mehrheit der US-Bevölkerung, deren Einstellung sich nach links verschoben hat. Er sieht sich Forderungen nach einer Politik gegenüber, die der Arbeiterklasse zugute kommt, die von Bernie Sanders und linken Demokrat*innen wie Alexandria Ocasio-Cortez formuliert werden.
John Maynard Biden?
Der Kolumnist der New York Times, David Brooks, schrieb: »Dieser Moment ist wie 1981, der Beginn der Reagan-Revolution, nur in umgekehrte Richtung.« Er argumentiert: »Es besteht nun die Annahme, dass die Regierung eingreifen sollte, um die wirtschaftliche Unsicherheit und Ungleichheit zu verringern. Sogar Republikaner wie Tom Cotton und Mitt Romney arbeiten an einem Plan, um die Löhne für amerikanische Arbeiter*innen aktiv anzukurbeln. «
Ist dies die Rückkehr des Keynesianismus?
Befürworter der Ideen des Ökonomen John Maynard Keynes sind sich trotz großer Unterschiede einig, dass der Staat eine aktive Rolle spielen muss, damit die kapitalistische Wirtschaft funktioniert. Damit wollen sie die kapitalistische Produktionsweise aufrechterhalten, nicht abschaffen.
Rechtsgerichtete Keynesianer*innen wollen schwächelnde Verbrauchernachfrage in einer Krise durch staatliche Nachfrage ankurbeln, beispielsweise durch Infrastrukturprojekte. In Krisenzeiten ausgegebenes Geld soll dann im nächsten Aufschwung wieder eingespart werden.
Linke Keynesianer*innen wollen durch Lohnerhöhungen und Sozialleistungen Ressourcen dauerhaft in die Hände der Arbeiterklasse übertragen, damit der Kapitalismus angeblich für alle Menschen, unabhängig von ihrer Klasse, besser funktioniert.
Obwohl Bidens erste Schritte bedeutsam sind, ist es noch zu früh, um beurteilen zu können, wohin dies führen wird. Biden war sicherlich gezwungen, einen neuen Kurs einzuschlagen. Das politisch-wirtschaftliche Paradigma, dem er sein ganzes politisches Leben lang loyal diente, war der Neoliberalismus. Der aber funktioniert auch für die herrschende Klasse nicht mehr. Hier geht es aber noch nicht um ein neues Paradigma. Es geht um ein verlorenes Paradigma und die damit einhergehende Instabilität.
Der Zustand der Wirtschaft: Fiktiv
Die New York Times schrieb am 1. Januar 2021: »Ende 2020 besteht im Wesentlichen die verwirrende wirtschaftliche Realität der USA darin, dass auf der Welt alles schrecklich und gleichzeitig auf den Finanzmärkten alles wunderbar ist. Es ist ein makaberes Spektakel. Die Preise für Vermögenswerte erreichen immer wieder neue, außergewöhnliche Höchststände, während täglich rund 3.000 Menschen am Coronavirus sterben und 800.000 Menschen pro Woche neue Arbeitslosenanträge stellen. Selbst ein Enthusiast des modernen Kapitalismus könnte sich fragen, ob etwas mit der Funktionsweise der Wirtschaft grundlegend schief läuft.«
Der Economist berichtete am 10. Dezember 2020: »Das Barvermögen der 3.000 wertvollsten börsennotierten nicht-finanziellen Unternehmen der Welt ist von 5,7 Billionen US-Dollar im Vorjahr auf 7,6 Billionen US-Dollar explodiert. Selbst wenn man Amerikas ungewöhnlich bargeldreiche Technologie-Giganten – Apple, Microsoft, Amazon, Alphabet und Facebook – ausschließt, sind die Unternehmensbilanzen voller Liquidität.«
Wie viel von dieser wirtschaftlichen Entwicklung ist real?
Auf der Suche nach mehr Geld basieren kapitalistische Investitionen auf erwarteten Gewinnen. Wenn Aktien eines Unternehmens versprechen, in einem Jahr eine Million US-Dollar Profit abzuwerfen (und ihren Wert zu behalten) und wenn ein Kapitalist eine Rendite von zehn Prozent für seine Investitionen erwartet, dann sind zehn Millionen US-Dollar für diese Aktien ein angemessener Preis, unabhängig davon, welche Werte die Aktien formal repräsentieren (das heißt unabhängig davon, was in der Vergangenheit an Werten investiert wurde, um Fabriken, Patente, Handelsbeziehungen, Qualifikation der Beschäftigten und so weiter aufzubauen).
Der Wert dieser Aktien ist fiktiv, da sie auf Erwartungen an die Zukunft basieren, beispielsweise den zukünftigen Gewinnen eines Unternehmens. Dies bedeutet nicht, dass sie nicht real sind. Es bedeutet nur, dass sie noch nicht real sind, und es beinhaltet die Möglichkeit, dass sie sich als nicht realisierbar herausstellen.
Was steckt hinter dem enormen Preisanstieg bei Aktien und Vermögenswerten? Der enorme Geldbetrag, der während der Krise 2007/09 und erneut während dieser Covid-19-Krise in die Märkte gepumpt wurde, führte zu enormen Geldmengen in den Händen der Reichen. Diese Politik, die als »quantitative easing« (»quantitative Lockerung«) bezeichnet wird, hat zu Blasen bei Aktien, Immobilien, Rohstoffen usw. geführt, die einige Kommentatoren als »everything bubble« bezeichnen (nicht nur: Immobilien-Blase, Aktien-Blase, Rohstoff-Blase, sondern: »alles Blase«).
Solange diese Blasen wachsen – angespornt von der Verfügbarkeit billiger Kredite, der quantitativen Lockerung -, kann die Erwartung einer bestimmten Kapitalrendite zum Beispiel von Aktien eines Unternehmens damit erfüllt werden, dass mehr Anle-ger*innen diese Aktien zu höheren Preisen kaufen. Dies tun sie ihrerseits mit der Erwartung zukünftiger Preissteigerungen dieser Anlagen. Solange der Aktienkurs steigt, ist das ein Schneeballsystem, das vorübergehend funktioniert. Irgendwann wird sich jedoch die Frage stellen: Produzieren diese Unternehmen tatsächlich die Gewinne, um diese Wetten zu stützen? Und wenn die Antwort »nein« ist, platzen die Blasen.
Die durch gewaltige Mengen an Geld aufgeblähten Aktien-, Immobilien- und andere Anlagewerte können sich mittelfristig nur halten, wenn sie durch zukünftige Gewinne gedeckt sind und diese sich realisieren. Auch wenn es vorübergehend so scheint, als ließe sich Profit einfach auch durch steigende Aktienkurse schaffen, so sind es diese fiktiven Werte, die am Ende hinterfragt werden.
Selbst wenn eine Krise dann nur die Exzesse der Finanzspekulation beseitigen würde, würde sie die normalen Geschäftsbeziehungen empfindlich stören. Da jedoch fiktives Kapital eine große Rolle bei der Förderung realer Investitionen, bei der produktiven Entwicklung im Kapitalismus spielt (Kredite erlauben zum Beispiel größere Investitionen), führt ein Schock, der durch die Beseitigung von fiktivem Kapital verursacht wird, zu einer allgemeinen Kreditklemme, einer Kontraktion der Wirtschaft und einer»Überkorrektur« der vorherigen Exzesse. Massenarbeitslosigkeit und Armut drohen, inmitten all des vorhandenen Reichtums.
Während sich die kapitalistische Wirtschaft nach der Covid-19-Krise, auch mit Hilfe der gewaltigen staatlichen Maßnahmen zunächst erholen wird, werden diese riesigen Blasen auf fast allen globalen Kapitalmärkten im nächsten Konjunkturzyklus bestehen bleiben. Dies wird mittelfristig verhindern, dass sich die Wirtschaft auf einer soliden Basis entwickelt, und kann zu plötzlichen Implosionen und Kettenreaktionen führen.
Mandels Fehler
Es lohnt sich, sich mit den Ideen des marxistischen Ökonomen Ernest Mandel zu beschäftigen, um die langen Wellen der kapitalistischen Produktion zu verstehen. Insbesondere beim Neoliberalismus hat er sich jedoch geirrt. Mit Blick auf die Zukunft beschrieb er die Zeit, die wir heute als Neoliberalismus kennen, in seinem Buch Late Capitalism (1972): »Die langsame Absorption der ›industriellen Reserve-Armee‹ in den imperialistischen Ländern blockiert einen weiteren Anstieg der Mehrwertrate trotz zunehmender Automatisierung. Der Klassenkampf unterhöhlt die Profitrate. Die Verschärfung des internationalen Wettbewerbs und die Weltwährungskrise wirken in die gleiche Richtung. Verlangsamung der Expansion des Welthandels.« In anderen Schriften sah Mandel eine zunehmende Rolle staatlicher Eingriffe in die Wirtschaft vorher, eine Politik wie der New Deal in den USA der 1930er Jahre.
Warum lag er so daneben? Wie Mandel selbst erklärte, entwickeln sich solche langen Wellen der kapitalistischen Produktion, die man auch als »Akkumulationsregime« bezeichnen kann, nicht einfach aus objektiven Notwendigkeiten und Änderungen in der technischen Zusammensetzung des Kapitals, sondern auch aus dem lebendigen Kampf zwischen den Klassen global und national.
Mandel sah nicht voraus, was für einen Rückschlag im Bewusstsein der Arbeiterklasse es nach dem Fall der Sowjetunion und der Ostblockstaaten geben würde und was das für eine Schwächung der Arbeiterorganisationen wie den Gewerkschaften mit sich bringen würde. Was in den 1980er mit den Angriffen Reagans und Thatchers auf die Gewerkschaften begonnen hatte, verallgemeinerte sich rasant. Sozialdemokratische Parteien bewegten sich scharf nach rechts, sobald der Druck von unten, von der Arbeiterklasse und von der Arbeiterbewegung nachließ. Den Kapitalist*innen eröffneten sich eine große Chance, ihre Gewinne durch eine intensivere Ausbeutung der Arbeiterklasse zu steigern, und sie begannen, Löhne, Sozialleistungen und Sozialprogramme zu kürzen. Mit den Worten von David Harvey in A Brief History of Neoliberalism (2005): »Die kapitalistische Welt stolperte in Richtung Neoliberalisierung […] durch eine Reihe von Wendungen und chaotischen Experimenten.«
Was kommt nach dem Neoliberalismus?
Prognosen sind schwierig, besonders wenn sie die Zukunft betreffen.
~ Karl Valentin
Kürzungen, Privatisierungen, Angriffe auf Löhne und Gewerkschaften – das sind Kennzeichen der neoliberalen Ära. Diese Maßnahmen wurden auch schon vor der neoliberalen Ära angewendet und werden nicht über Nacht verschwinden. Der Neoliberalismus – als vorherrschender Konsens und Modell zur Kapitalakkumulation – hat jedoch sein Ende erreicht. Paul Mason schrieb im Mai 2017 über den Neoliberalismus: »Man kann eine Wirtschaft künstlich am Leben halten, aber keine Ideologie […]. Das menschliche Gehirn fordert Kohärenz – und ein gewisses Maß an Optimismus. Die neoliberale Story wurde inkohärent, als der Staat dramatische Schritte ergreifen musste, um einen versagenden Finanzmarkt zu unterstützen. Die Form der Erholung, die durch Quantitative Easing stimuliert wurde, steigerte das Vermögen der Reichen, aber nicht das Einkommen der durchschnittlichen Arbeiter*innen – und steigende Kosten für Gesundheitsversorgung, Bildung und Altersvorsorge in den Industrieländern führten dazu, dass viele Menschen die ›wirtschaftliche Erholung‹ in ihrem Haushalt als Rezession erlebten.« (The Nation, 4. Mai 2017)
Auf der tieferen Ebene einer »langen Welle kapitalistischer Produktion« schuf der Neoliberalismus eine Situation, die er nicht überwinden kann. Um Mandels Fehler (siehe Seitenleiste) nicht zu wiederholen, scheint Vorsicht angebracht mit kühnen Behauptungen über das kommende Akkumulationsregime. Es scheint aber durchaus möglich, einige der aktuell vorhandenen Widersprüche zu skizzieren und zu beschreiben, wohin einige Entwicklungen zeigen:
1) Übergangszeiten
Der Übergang von einem alten, etablierten Akkumulationsregime zu einem neuen ist eine Zeit der Unsicherheit und des Konflikts. Das Fehlen eines tragfähigen Modells für wirtschaftliche und politische Fortschritte, das Fehlen einer überzeugenden Story darüber, wie der Kapitalismus zu einer besseren Zukunft führen könne, schafft sowohl die gesellschaftliche Notwendigkeit als auch die Gelegenheit, über Alternativen nachzudenken. Von dieser Suche nach Ideen können aktuell rechtspopulistische und rechtsradikale Kräfte profitieren. Sie eröffnet aber auch der sozialistischen Linken – aktuell besonders in den USA – neue Möglichkeiten.
2) Das Ende der fossilen Brennstoffindustrie
Der von fossilen Brennstoffen angetriebene Kapitalkomplex (Ölfirmen, Automobilindustrie und so weiter) wird auf die eine oder andere Weise entscheidend an Bedeutung verlieren. Es ist möglich, dass sich die Umstellung auf erneuerbare Energien weiter verzögert, was dramatische Folgen für die Lebensbedingungen auf diesem Planeten hätte. Aber selbst in diesem Szenario gibt es keine dauerhafte Zukunft für fossile Brennstoffe. Eine Umstrukturierung der Energie- und Stromerzeugung sowie des Verkehrs wird eine erhebliche Menge an fixem Kapital zerstören, das mit diesen niedergehenden Industrien verbunden ist. Dies könnte anderen Kapitalfraktionen gewisse Möglichkeiten eröffnen. David Harvey beschrieb in Jacobin (Juni 2016), dass »die sogenannte ›neue Kapitalistenklasse‹ von Bill Gates, Amazon und Silicon Valley für eine andere Politik steht als traditionell Öl und Energie«.
Neue Technologien, beispielsweise Elektroautos oder selbstfahrende Autos, reduzieren jedoch den Arbeitskräftebedarf erheblich. Elektroautos sind einfacher herzustellen; selbstfahrende Autos werden zu einem Anstieg der Carsharing- und Taxiunternehmen führen, wodurch die Anzahl der benötigten Autos verringert wird. Dies könnte zumindest kurzfristig zu Massenarbeitslosigkeit, sozialen Umwälzungen und wirtschaftlichen Erschütterungen beitragen.
3) Digitale Revolution
Die digitale Revolution wird verstärkt zu Automatisierungen führen. Arbeitsplatzverluste sind die Folge. Von allen Möglichkeiten, die die neuen Technologien mit sich bringen, scheint der Kapitalismus weniger in der Lage, neue Produkte und Märkte zu schaffen, als sie zur Arbeitsplatzvernichtung einzusetzen.
Bei vielen der neuen Hauptakteure stehen die Geschäftsmodelle auf tönernen Füßen: Google verkauft seine Nutzer*innen an Werbetreibende – ein parasitärer Weg, um vom Mehrwert zu profitieren, der von der Arbeiterklasse in anderen Bereichen der Wirtschaft produziert wird. Amazon als riesige Verkaufsplattform generiert nicht viel neuen Wohlstand. Es monopolisiert hauptsächlich seine Macht als Plattform. (Der größte Teil des Gewinns des Unternehmens stammt von AWS, Amazons Webdiensten, die möglicherweise mehr Potenzial haben, tatsächlich neue Werte zu schaffen). Unternehmen wie Microsoft und Apple haben vor allem vom »Branding« und von Monopolstellungen profitiert.
4) Von Globalisierung zum Wirtschaftsnationalismus
Unter dem Neoliberalismus sammelten sich Gewinne im wachsenden und zunehmend parasitären Finanzsektor, weit entfernt von der tatsächlichen Produktion. Sie wurden in den Händen von Unternehmen imperialistischer Länder zentralisiert. Um diese Gewinnkonzentration zu ermöglichen, verlangte das Kapital die Fähigkeit, sich frei über Grenzen hinweg zu bewegen – Globalisierung und Deregulierung wurden zu Schlüsselelementen des neoliberalen Konsenses.
Alles Gerede von »transnationalen Konzernen« endeten jedoch sofort, als die Krise 2007/09 zuschlug und die imperialistischen Länder Maßnahmen ergriffen, um ihre eigenen Unternehmen zu retten, nicht irgendwelche »transnationalen«. Die US-Regierung hat GM und Ford gerettet, und der deutsche Staat hat sich um Volkswagen, BMW und Mercedes-Benz gekümmert.
Die Wirtschaftskrise 2007/09 versetzte dem Neoliberalismus und der Globalisierung einen schweren Schlag.
Opposition entwickelte sich zum Beispiel in Form von Rechtspopulismus mit Neo-Nationalisten wie Donald Trump und Boris Johnson und rechtsextremen neofaschistischen Parteien in Europa.
Heute bewegt sich die Welt weg von der Globalisierung hin zu Währungskriegen und wirtschaftlichem Nationalismus.
Einige mächtigere Akteure versuchen, ihre Wirtschaftsblöcke zu stärken, wie beispielsweise Deutschland, das versucht, die EU zusammenzuhalten, und Separatisten bestraft. Währenddessen versuchen einige Länder des globalen Südens, die Konkurrenz zwischen China und westlichen Imperialisten zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Insgesamt geht der Trend zu einer Rückkehr zu Protektionismus und zwischenstaatlichen Konflikten.
Ein Faktor von globaler Bedeutung ist das schwindende Vermögen der USA, die Rolle einer einheitlichen, dominanten Kraft zu spielen. Frühere Versuche, die globale Integration voranzutreiben wie zum Beispiel die Erweiterung der Welthandelsorganisation (WTO), wurden von der Autorität der USA getragen und gestützt. Das Scheitern der WTO-Handelsverhandlungen in Doha war ein Wendepunkt. David Harvey schrieb:
»Geopolitisch sind die Vereinigten Staaten nicht in der Lage, weltweit die Strippen zu ziehen, wie das in den 1970er Jahren der Fall war. Ich denke, wir sehen eine Regionalisierung der globalen Machtstrukturen innerhalb des Staatensystems – regionale Hegemonien wie Deutschland in Europa, Brasilien in Lateinamerika, China in Ostasien. « (Jacobin, Juni 2016)
5) Das Ende des stabilen Geldes
Im Neoliberalismus legten die Notenbanken höchste Priorität auf die Aufrechterhaltung einer niedrigen und stabilen Inflationsrate. David Harvey beschrieb dies bezüglich der USA: »Im Oktober 1979 führte Paul Volcker, Vorsitzender der US-Notenbank unter Präsident Carter, eine drakonische Verschiebung der US-Geldpolitik durch. Das langjährige Bekenntnis des liberal-demokratischen Staates der USA zu den Grundsätzen des New Deal, das im Großen und Ganzen eine keynesianische Fiskal- und Geldpolitik mit Vollbeschäftigung als Hauptziel beinhaltete, wurde zugunsten einer Politik zur Eindämmung der Inflation aufgegeben, ungeachtet der Folgen, die dies für die Frage der Beschäftigung haben könnte.«
Die »Unabhängigkeit« der Notenbanken, die beispielsweise in der Schaffung der Europäischen Zentralbank zur Regulierung des Euro verankert ist, war eine notwendige Garantie für die Kapitalakkumulation unter dem neoliberalen Regime. Aber mittlerweile hat die »quantitative Lockerung«, der Prozess des Druckens von Geld und der Erweiterung des verfügbaren Geldangebots, diesen Aspekt des neoliberalen Konsenses ersetzt. Dies hat die Stabilität untergraben, die zur Akkumulation von Kapital erforderlich ist, wodurch das neoliberale Regime funktionieren konnte. Dies wird in Zukunft zu massiver Instabilität führen.
6) Eine Gegenreaktion der Arbeiterklasse?
Unter dem Neoliberalismus wurden Löhne angegriffen und Gewerkschaften massiv geschwächt, um die Profite zu steigern. Die Zahl der Niedriglohnempfänger*innen und der prekär Beschäftigten nahm erheblich zu. Die verstärkte Ausbeutung der Arbeiterklasse untergrub die Nachfrage der Verbraucher*innen, da den Arbeiter*innen immer weniger bezahlt wurde. Die Inlandsmärkte wurden durch eine globale Expansion des Kapitalismus ersetzt. Dieser Vorgang hat jedoch objektive Grenzen.
In vielen Ländern hat sich das Bewusstsein nach links verschoben. Zuletzt gab es 2019 eine ganze Welle an Revolten und Aufständen rund um den Globus. Parteien,wie Syriza, von denen erwartet wurde, dass sie den Widerstand organisieren, konnten dramatisch zulegen (im Falle Syriza: bis zu ihrer offensichtlichen Kapitulation). Formationen wie die DSA wurden transformiert und neue Kräfte wie Podemos entwickelten sich. Auch auf der politischen Ebene wird so zumindest wieder verstärkt versucht, der verschärften Ausbeutung etwas entgegen zu setzen.
Der Zusammenbruch der Sowjetunion und die langsamere Wiedereinführung des Kapitalismus in China haben Milliarden von Arbeiter*innen unter die Kontrolle der kapitalistischen Produktion gebracht und die Märkte erheblich erweitert. Die Wiederherstellung des Kapitalismus schuf neue Märkte. Die Ausweitung der Ausbeutung erfolgte auch innerhalb der kapitalistischen Länder: Der Anteil berufstätiger Frauen stieg. Privatisierungen haben weitere Branchen unter die Kontrolle der kapitalistischen Produktion gebracht. Diese Expansionen erlaubten dem Kapital, zeitweise die Profitraten zu stabilisieren.
Nun allerdings kippen diese Entwicklungen. Es entsteht eine neue Militanz, insbesondere in Betrieben mit überwiegend weiblichen Arbeitskräften wie in Krankenhäusern. Privatisierungspläne stoßen oft auf großen Widerstand von Beschäftigten, die über Jahrzehnte hinweg die verheerenden Folgen dieser Politik erlebt haben. Die Arbeiterklasse auf internationaler Ebene erholt sich langsam von den Niederlagen der 1980er und 1990er Jahre.
Bewusstsein und Organisierung der Beschäftigten sind heute viel niedriger als über weite Strecken des 20. Jahrhunderts. Die Verschiebung nach links in den USA und ihre Auswirkungen auf internationaler Ebene, die anhaltenden Kämpfe in Lateinamerika und der Widerstand unter der Oberfläche in China bieten jedoch Hoffnung für zukünftige Kämpfe. Dies wird das neoliberale Modell auch an dieser Front herausfordern.
Während viele Politiker an neoliberalen Ideologien festhalten möchten, stieß die grundlegende Funktionsweise des Neoliberalismus für die kapitalistische Reproduktion in der Rezession 2007/09 an ihre Grenzen – Grenzen, die der Neoliberalismus selbst geschaffen hat.
Biden und andere kapitalistischen Politiker*innen versuchen tastend, einen Weg vorwärts zu finden. Die Frage ist, ob die Arbeiterklasse und die sozialistische Bewegung international diese Situation ausnutzen können.
Lange Wellen kapitalistischer Produktion oder Regime der Kapitalakkumulation
»Die Geschichte des Kapitalismus auf internationaler Ebene […] erscheint nicht nur als Folge zyklischer Bewegungen alle sieben oder zehn Jahre, sondern auch als Abfolge längerer Perioden von etwa 50 Jahren«, schrieb der marxistische Ökonom Ernest Mandel in seinem Buch Late Capitalism im Jahr 1972. Über die Konjunkturzyklen mit ihren Auf- und Abschwüngen hinaus, so Mandel, gibt es Perioden von Expansionen und Kontraktionen wie den Keynesianismus in der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre oder, wie wir hinzufügen könnten, den Neoliberalismus von den 1970er Jahren bis 2008.
Diese »langen Wellen der kapitalistischen Produktion« werden oft mit dem Ökonomen N. D. Kondratieff in Verbindung gebracht. Er analysierte, wie bestimmte technologische Produktionsbedingungen, ihr Aufstieg und dann ihr Verfall, die wirtschaftliche Entwicklung beeinflussen.
Kondratieffs Ansatz ist etwas zu mechanisch und deterministisch. Im Gegensatz zu den langen Wellen können Konjunkturzyklen, die sieben bis zehn Jahre dauern, anhand der technologischen und wirtschaftlichen Bedingungen erklärt werden. Das gilt nicht für die langen Wellen. Leo Trotzki schreibt: »Was die großen Abschnitte (50 Jahre) der Entwicklungskurve des Kapitalismus betrifft, bei denen Professor Kondratieff unvorsichtigerweise vorschlägt, sie auch als Zyklen zu bezeichnen, so sind ihr Charakter und ihre Länge nicht durch die inneren Wechselwirkungen der Kräfte des Kapitalismus bestimmt, sondern durch jene externen Faktoren, die die Bahn bilden, in der die Entwicklung des Kapitalismus verläuft. Die Einverleibung neuer Länder und Kontinente durch den Kapitalismus, die Entdeckung neuer natürlicher Ressourcen und in deren Gefolge, solche Hauptereignisse im Bereich des ›Überbaus‹ wie Kriege und Revolutionen determinieren den Charakter und das Abwechseln von ansteigenden, stagnierenden oder niedergehenden Epochen der kapitalistischen Entwicklung.«
Um Perioden wie Keynesianismus und Neoliberalismus zu verstehen, müssen mehrere Faktoren in ihrer Wirkung berücksichtigt werden:
◼ Technologische Veränderungen (Dampfkraft und Züge zu einer Zeit; auf fossilen Brennstoffen basierende Produktion des Auto-, Chemie- und militärischen Produktionskomplexes zu einer anderen). Umwälzungen drücken sich auch in der Kapitalzusammensetzung aus (zuerst wird das angesammelte konstante Kapital einer früheren Periode abgewertet, was die Profitrate sanieren kann, und dann eine neue Masse konstanten Kapitals aufgebaut, die dann die Profitrate senkt).
◼ Konflikte zwischen rivalisierenden herrschenden Klassen auf internationaler Ebene. Imperialistische Beziehungen bestimmen wesentliche Teile der Wirtschaft. Sie sind umkämpft. Der Kapitalismus oszilliert zwischen dem Drang zu internationaler Produktion und nationalstaatlicher Organisation des Systems. Phasen von Globalisierung und dann wieder von verstärktem Nationalismus und Protektionismus bedingen einander. Das hat entscheidende Auswirkungen auf die jeweiligen Formen der Profitakkumulation.
◼ Der Klassenkampf. Die Macht der Arbeiterklasse, höhere Löhne, Leistungen und Sozialprogramme zu gewinnen wirkt sich auch auf die Anhäufung von Profiten aus. Im Zeitalter des Keynesianismus konnten die Arbeiter*innen höhere Löhne und soziale Dienstleistungen durchsetzen und dadurch die Gewinne senken. Unter dem Neoliberalismus wurde die Macht der Arbeiter*innen geschwächt und die Gewinne durch Lohnsenkungen und Sozialkürzungen wiederhergestellt.
Da dieses Zusammenspiel aller Faktoren bestimmt, wie innerhalb des Kapitalismus Profite angehäuft werden können, könnte der Ausdruck »Regime der Kapitalakkumulation« eine bessere Beschreibung sein als »lange Wellen der kapitalistischen Produktion«. Die Frage ist, wie verschiedene herrschende Klassen sicherstellen können, dass die Akkumulation von Kapital für sie funktioniert. Die Antwort liegt teilweise darin, wie sehr sie ihre Interessen anderen Klassen auf internationaler und nationaler Ebene aufzwingen können. In diesem Sinne war der Neoliberalismus mehr als eine Ideologie oder eine Reihe von Maßnahmen; er war ein Regime der Kapitalakkumulation.