Wie sich konfessionelle Träger in der Altenpflege zu Steigbügelhaltern kommerzieller Anbieter machen
Von Matthias Gruß, Berlin
Matthias Gruß arbeitet als Gewerkschaftssekretär in der ver.di-Bundesverwaltung und ist zuständig für Einrichtungen der ambulanten und (teil)stationären Altenpflege
In den 1990er Jahren wurde die ambulante und (teil)stationäre Altenpflege, die einen wichtigen Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge darstellt, für kommerzielle Anbieter geöffnet. Der Vorgang reiht sich nahtlos ein in den Prozess der kapitalistischen Landnahme, den wir aus anderen Bereichen kennen. Er passt damit in das neoliberal gezeichnete Bild von Staat und Gesellschaft der vergangenen Jahrzehnte. Wenig überraschend könnte man meinen. Und doch treibt dies in der Altenpflege besondere Blüten.
Vor etwa 25 Jahren wurde, gleichzeitig mit der Einführung der Pflegeversicherung, die Altenpflege für kommerzielle Anbieter geöffnet. Bis dahin gab es ausschließlich öffentliche und frei-gemeinnützige Träger. Der Bundes-Angestelltentarifvertrag (BAT) galt unmittelbar oder wurde von den Wohlfahrtsverbänden und Kirchen durch Tarifverträge beziehungsweise über den kirchlichen Sonderweg, den sogenannten Dritten Weg, nahezu unverändert übernommen. Die Öffnung für kommerzielle Träger und der Einzug von Marktmechanismen, Wettbewerb und Profitstreben leistete Tarifflucht und Ausgliederung Vorschub. Beschäftigte und Gewerkschaften konnten dem nur wenig entgegensetzen. Dass nur ein Teil der Pflegeleistungen von der Pflegeversicherung bezahlt wird – was zu massiv steigenden Eigenanteilen der pflegebedürftigen Menschen führe – erhöht den Druck im Kessel zusätzlich.
Inzwischen macht der Anteil kommerzieller Unternehmen rund die Hälfte der 30.000 Einrichtungen und Dienste in der ambulanten und stationären Pflege mit insgesamt mehr als 1,2 Millionen Beschäftigten aus. Internationale Großkonzerne und Finanzinvestoren haben die Altenpflege als profitträchtiges Betätigungsfeld entdeckt – aufgrund steigender Nachfrage und gesichertem Finanzfluss ein lukratives Geschäft. Tarifverträge und Betriebsräte gibt es in diesen Einrichtungen kaum. Diese Anbieter stellen sich Tarifverträgen meist grundsätzlich entgegen. Dementsprechend sind die Löhne oft miserabel. In Sachsen-Anhalt bekommt mehr als die Hälfte der examinierten Pflegekräfte weniger als 2.500 Euro in Vollzeit. Der Teilzeitanteil liegt bei rund zwei Dritteln. Die beiden Arbeitgeberverbände der kommerziellen Träger, unter anderem mit Rainer Brüderle (FDP) an der Spitze, sehen ihre Rolle als Tarifverhinderer. Aufforderungen von ver.di, über Flächentarifverträge zu verhandeln, wurden abgelehnt. Organisieren sich Beschäftigte in einer Einrichtung mehrheitlich in ver.di, um einen Haustarifvertrag zu erkämpfen, sind nicht selten Streiks notwendig, um überhaupt an den Verhandlungstisch zu kommen. Der Arbeitgeberverband Pflege will beim Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg gar gerichtlich feststellen lassen, dass
ver.di in der Altenpflege nicht tariffähig sei und will sich so gewerkschaftliche Gegenmacht vom Hals halten.
Auch weltliche Wohlfahrtsverbände haben unter dem Wettbewerbsdruck ihre bundesweiten Verbandstarifverträge weitgehend zugunsten von regionalen Tarifvereinbarungen aufgegeben. Viele Gliederungen haben die Tarifbindung ganz aufgekündigt. Besonders dramatisch ist die Situation im Osten des Landes. An der tariflichen Gesamtsituation hat auch die 2015 erfolgte gesetzliche Festschreibung nichts geändert, dass tarifvertragliche Gehälter bei Pflegesatzverhandlungen nicht mehr als »unwirtschaftlich« abgelehnt werden dürfen.
Der seit 2010 bestehende Pflegemindestlohn hat sich als totes Pferd erwiesen, weil die Arbeitgeber – insbesondere die kommerziellen Träger – jedwede grundsätzliche Verbesserung in der Kommission blockieren. Einer klassischen Allgemeinverbindlichkeitserklärung über das Tarifvertragsgesetz (§5 TVG) steht die Blockade der Arbeitgeber im Tarifausschuss entgegen. Entsprechende Anträge in Bremen und Niedersachsen sind daran bereits gescheitert. Rund ein Drittel aller Einrichtungen ist in kirchlicher Trägerschaft. Deren Unterstützung einer solchen Lösung fällt aus ideologischen Gründen zusätzlich weg, weil diese auch im 21. Jahrhundert noch auf ihrem kircheninternen Weg der Lohnfindung beharren und Tarifverträge zumeist grundsätzlich ablehnen.
Im Bündnis mit Wohlfahrtsverbänden, darunter Diakonie und Caritas, hat ver.di nach Wegen gesucht, den Verwerfungen in der inzwischen zum Markt gewandelten Altenpflege etwas entgegenzusetzen. Als einzig praktikabler Weg für eine flächendeckende Lösung zeigte sich eine Rechtsverordnung nach § 7a Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG). Damit können Regelungen eines Tarifvertrages über Mindestarbeitsbedingungen auf die gesamte Altenpflege verbindlich erstreckt werden. Das dafür notwendige Kriterium des öffentlichen Interesses ist unstrittig. Das Gute: Bessere arbeits- oder tarifvertragliche Regelungen bleiben davon unberührt. Die Caritas und die Diakonie hatten sich in der von der Regierung einberufenen »Konzertierten Aktion Pflege« ausdrücklich hinter diesen Weg gestellt. Für deren Beteiligung wurde mit dem »Pflegelöhneverbesserungsgesetz« die Grundlage geschaffen; Caritas und Diakonie waren eng eingebunden. Damit wurden Brücken gebaut und den konfessionellen Akteuren im Sinne des vermeintlich gemeinsamen Ziels sehr weit entgegengekommen. Vielleicht zu weit, wie sich später herausstellen sollte.
Ein Teil der Wohlfahrtsverbände gründete die Bundesvereinigung der Arbeitgeber in der Pflegebranche (BVAP) und verhandelte mit ver.di einen Tarifvertrag, der die Mindestentgelte um rund 25 Prozent erhöhen sollte. Wie es das AEntG vorschreibt, wurden die Arbeitsrechtlichen Kommissionen (ARK) von Caritas und Diakonie zum voraussichtlichen Ergebnis angehört. In mehrstündigen Sitzungen wurden die Regelungen offen, kritisch und auf Augenhöhe besprochen. Im endgültigen Ergebnis wurden die Hinweise der ARKen von den Tarifpartnern soweit wie möglich berücksichtigt. Das Gesamtziel schien greifbar nahe.
Doch am 25. Februar 2021 haben die Arbeitgeber in der ARK der Caritas unter fadenscheiniger Begründung nicht zugestimmt und damit ihr gesetzlich eingeräumtes Beteiligungsrecht pervertiert. Die ARK der Diakonie Deutschland nahm die Ab-stimmung danach gleich ganz von der Tagesordnung. Mit weitreichenden Folgen: Damit das Bundesarbeitsministerium den Tarifvertrag auf die Branche erstrecken kann, ist ein gemeinsamer Antrag der Tarifparteien nötig, der die Zustimmung der ARKen von Caritas und Diakonie erfordert. Diese Zustimmung fehlt nun. Hunderttausende Pflegepersonen – insbesondere bei den kommerziellen Pflegeanbietern und vor allem weibliche Beschäftigte – sind die Verlierer*innen. Ihnen wird eine 25-prozentige Lohnerhöhung aus egoistischen Motiven der kirchlichen Träger verwehrt. Diese hatten offenbar Angst, ihren Wettbewerbsvorteil gegenüber den kommerziellen Trägern im Ringen um Pflegekräfte zu relativieren.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) war daran nicht unbeteiligt. Er erweckte unmittelbar zuvor den Eindruck, es gäbe eine gesetzliche Alternative. Der im März bekannt gewordene Arbeitsentwurf aus dem Bundesgesundheitsministerium würde jedoch die Tarifautonomie verletzen, Flächentarifverträge schwächen, für weniger tatsächliche Tarifbindung sorgen, einer höheren Bezahlung in der Fläche durch Bezugnahme auf »ortsübliche« Löhne entgegenstehen und somit die aktuell schlechte Bezahlung vieler Pflegepersonen sogar noch zementieren.
Unterstellt man einem Bundesminister, dass er die Gesetze, die er unterbreitet, ernst meint, ist der Entwurf ein Ausdruck seiner politischen Intention: bessere Bezahlung und mehr Tarifbindung in der Altenpflege zu verhindern. Damit macht er Politik für profitorientierte Betreiber und gegen die Beschäftigten in der Altenpflege.
In den Chefetagen der Pflegekonzerne und Finanzinvestoren und bei den Arbeitgeberverbänden der kommerziellen Träger knallen derweil die Sektkorken, denn der Honig, den Jens Spahn den Arbeitsrechtlichen Kommissionen von Caritas und Diakonie vor ihren Abstimmungen um den Mund geschmiert hat, entpuppt sich als Vogelleim. Letztlich haben sich die Arbeitgeber von Unternehmens-Caritas und -Diakonie zu Steigbügelhaltern privater Profitinteressen gemacht. Die flächendeckende Verbesserung der Bezahlung in der Altenpflege rückt somit in weite Ferne.
Für die Beschäftigten bleibt nur die Flucht nach vorn: Sich organisieren, gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit entwickeln, Tarifverträge durchsetzen; auch bei kirchlichen Trägern. Denn der „Dritte Weg“ hat sich wieder einmal als ungeeignet und überholt erwiesen, erst recht, wenn er sich vor den Karren der Kapitalinteressen spannen lässt.
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