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Gewerkschaften in den USA: Paradoxe Situation

Erfolgreiche Kämpfe und Zunahme von Streiks. Gewerkschaften verlieren jedoch weiter an politischem Einfluss.

von Stephan Kimmerle, Seattle / USA

Den Kunden von McDonald’s in den USA wurde am 18. September mal was Neues präsentiert. In zehn US-Städten, von Los Angeles bis Chicago, standen Streikposten vor den Filialen der Fastfoodkette. Die Beschäftigten forderten, dass der Konzern endlich gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz vorgeht. Die »Me Too«-Bewegung nahm sich damit dem Problem des alltäglichen Sexismus an, dem Niedriglöhnerinnen durch Vorgesetzte und Kunden ausgesetzt sind. Koordiniert wurde der Protest von der Frauenorganisation »Equal Rights Advocates«. Ein klassischer Arbeitskampf war das zwar nicht – nur eine kleine Minderheit legte für einen Tag die Arbeit nieder –, aber es handelte sich um ein effektives Mittel, um auf Missstände hinzuweisen und Beschäftigte ihre eigene Kraft spüren zu lassen.

Ähnlich verbreitete sich etwa die Forderung nach einem Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde von New York aus über die ganze Nation. Öffentlicher Druck auf die Gesetzgeber reichte zusammen mit einzelnen Streiks aus, um in zahlreichen Städten landesweit und in ganz Kalifornien deutlich höhere Lohnuntergrenzen durchzusetzen.

Die US-Gewerkschaftsbewegung befindet sich in einer paradoxen Situation: Landesweit gibt es erfolgreiche Kämpfe, für bezahlte Elternzeit oder entlohnte Krankheitstage, gegen den Sexismus, den auch Hotelbeschäftigte leid sind, oder schlicht und einfach für bessere Arbeitsbedingungen. In Umfragen gibt es große Unterstützung dafür, diese sozialen Fragen anzugehen, und auch die Gewerkschaften sind gut angesehen. Andererseits verlieren sie weiter Mitglieder und Einfluss.

Mitgliederschwund

US-Präsident Donald Trump hat auch daran seinen Anteil. Seine Ernennung von Neil Gorsuch zum Richter am Obersten Gerichtshof der USA im April 2017 sorgte dort für eine gewerkschaftsfeindliche Mehrheit. Durch eine Entscheidung des Supreme Courts vom Juni dieses Jahres verlieren die Beschäftigtenorganisationen im öffentlichen Dienst noch einmal Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen Mitglieder und somit Beitragszahler, die sie nun kostenlos mitvertreten müssen. Zuvor waren auch nichtorganisierte Beschäftigte dazu verpflichtet, Beiträge an die jeweilige Gewerkschaft zu entrichten.

»Eben darum ist es faszinierend, dass wir 2018 einen dramatischen Anstieg der Zahl der Arbeitsausfälle sehen«, argumentierte der Gewerkschaftsforscher Eric Dirnbach am 11. Juli auf der Website medium.com. Bereits zwei Millionen Arbeitstage fielen wegen Streiks bis August aus, so das Wall Street Journal am 23. September unter Berufung auf offizielle Statistiken. Das ist schon jetzt der höchste Wert seit 2006. »Es ist interessant«, so Dirnbach, »dass an beinahe allen Ausständen Beschäftigte im Bildungsbereich und in der Telekommunikationsindustrie beteiligt waren.« In letzterer setzt die linke Gewerkschaft der »Communications Workers of America« auf einen kämpferischen Kurs.

Im Unterrichtswesen traten Beschäftigte in West Virginia, Oklahoma, Kentucky, Arizona, North Carolina und Colorado im Frühjahr eine Welle von Streiks los. In diesen von Republikanern dominierten, eher ländlichen Bundesstaaten sind Tarifverträge für Lehrer zumeist verboten, Ausstände im öffentlichen Dienst zum Teil illegal. Das Bildungssystem diente dort über Jahrzehnte als Selbstbedienungsladen für Kürzungen, um Steuersenkungen für Reiche zu finanzieren.

Selbstorganisation

Aus dieser Gemengelage heraus organisierten sich Lehrer neu und oftmals spontan über das »soziale Netzwerk« Facebook, feierten tageweise kollektiv krank und streikten – auch gegen die bestehenden Gesetze. So konnten sie beachtliche Lohnsteigerungen durchsetzen. In West Virginia gab es fünf Prozent mehr Gehalt, in Oklahoma erhalten sie nun 10.000 Dollar mehr im Jahr.

So wie die Streiks in West Virginia über Facebook koordiniert wurden, versuchen nun dieselben Aktivisten über »soziale Medien« den Protest in einem Basiszusammenschluss zu verstetigen. Im Onlineaufruf dazu will Brendan Muckian-Bates, ein Englischlehrer aus West Virginia, nicht mehr auf »Lobbyismus und abwartende Politik« setzen. Seine Kollegin, Emily Comer, möchte ihren Einfluss in den Gewerkschaften geltend machen, da »das beste Organisieren von unten« komme. Wie weit sich aus solchen Bestrebungen eine Neubelebung der Gewerkschaftsbewegung ergibt, muss sich jedoch erst noch zeigen. Die Protestwelle inspirierte auf jeden Fall die Lehrer im Staat Washington. In 15 Schulbezirken startete das neue Schuljahr mit einem Ausstand. Das Ergebnis: Rund zehnprozentige Lohnerhöhungen ab kommendem Jahr, in manchen Bezirken sogar weitaus mehr.

Doch bei aller Euphorie: Im historischen Vergleich sind die Streikzahlen bescheiden. Von der erstmaligen Erfassung dieser Daten im Jahr 1947 bis zum Amtsantritt des US-Präsidenten Ronald Reagan 1981 schwankte die Zahl der Arbeitskämpfe mit mindestens 1.000 Beteiligten laut dem Wall Street Journal zwischen einem Höchststand von 470 im Jahr 1952 und lediglich 181 im Jahr 1963. Später folgte der Einbruch: Nach 1989 wurden keine 50 solcher Großstreiks pro Jahr mehr verzeichnet. 2016 waren es nur noch 16, 2017 gerade mal sieben. Dass ihre Zahl 2018 bis zum August auf 13 anstieg, ist wohl nur ein schwacher Trost.

Die traditionell starken Industriearbeitergewerkschaften stecken nach wie vor in der Krise. Der Verlagerung der Automobilproduktion und der Flugzeugindustrie in die gewerkschaftsfeindlichen Bundesstaaten im Süden der USA haben sie bislang wenig entgegenzusetzen. Organisierungsversuche der Beschäftigten, auch in den von VW oder Daimler betriebenen Werken in den Südstaaten, scheiterten komplett oder umfassen nur eine kleine Minderheit der Belegschaften.

Demokraten als Hoffnung

Manche Gewerkschaftsführer versuchen sich in dieser Situation selbst mit Trump zu arrangieren. Seine nationalistische Rhetorik gegen »Freihandelszonen« schien sich mit der Forderung nach einem Ende neoliberaler Politik zu decken. Richard Trumka, der Vorsitzende des Gewerkschaftsdachverbands American Federation of Labor and Congress of Industrial Organizations (AFL-CIO), äußerte sich jüngst durchaus wohlwollend über Trumps Neuverhandlung des Nordamerikanischen Handelsabkommens NAFTA mit Mexiko und Kanada. Doch die abhängig Beschäftigten haben wenig zu gewinnen, wenn die neoliberale Politik der Lohndrückerei mittels Handelsabkommen durch nationalistische Politik ersetzt wird.

Die meisten Verbände im AFL-CIO, wie auch die von ihm unabhängige Dienstleistungsgewerkschaft Service Employees International Union (SEIU), stecken ihre Hoffnungen, ihr Geld und das Engagement ihrer Hauptamtlichen in einen Wahlsieg der Demokraten im November, um damit die Mehrheit der Republikaner im Senat oder zumindest im Repräsentantenhaus kippen zu können. Mit einer Aktivierung der Beschäftigten hat das noch nichts zu tun. Das muss offenbar mühsam von unten vorangetrieben werden, sei es durch Selbstorganisation wie bei den Lehrern oder durch Kampagnen gegen Missstände wie bei McDonald’s.

Der Artikel erschien zuerst am 24.10.2018 in der Tageszeitung „junge welt“.