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Linksruck in Irland: Ende der rechten Vorherrschaft

Trotz Linksverschiebung bei den Wahlen bleibt die Regierungspolitik wohl dieselbe – noch

von Jess Spear, Dublin
(erschienen im Magazin „Lernen im Kampf“, 5. April 2020)

Jess Spear ist irlandweite Koordinatorin der Gruppe RISE – Radical, Internationalist, Socialist, Environmentalist

[Dieser Aritkel ist Teil unseres Magazins, „Lernen im Kampf“, Nr. 5]

Zu Redaktionsschluss sah es so aus, als würden die beiden traditionell stärksten bürgerlichen Parteien in Irland, Fianna Fail (FF) und Fine Gael (FG), die nächste Regierung stellen. Sie nutzen den Ausbruch der Corona-Pandemie als Deckmantel, um eine solche »große Koalition« zu begründen. Menschen der Arbeiterklasse hoffen auf eine starke Regierung, um ihre Interessen in dieser außerordentlichen Situation zu verteidigen. Diese Hoffnungen werden allerdings instrumentalisiert, um dieselben Kräfte an der Macht zu halten wie zuvor. RISE schlägt nach wie vor die Formierung einer linken Regierung vor, die die Veränderungen tatsächlich umsetzt, für die die Wähler*innen gestimmt haben.

Die Zeit der Vorherrschaft der rechten Parteien in Irland ist vorbei. Am 8. Februar haben sich die Beschäftigten klar für politische Veränderungen ausgesprochen. Die etablierten Parteien Fine Gael und Fianna Fail, die die Insel seit hundert Jahren abwechselnd regieren, bekamen zusammen nur noch 43 Prozent. In den frühen 1980er Jahren waren es noch 84 Prozent. Ihre Unterstützung sank stetig, doch ihr Niedergang beschleunigte sich nach der Weltwirtschaftskrise 2008/09, als beide Parteien die Rettung der Banken und Sozialkürzungen beschlossen. Dennoch versuchen sie, an der Macht zu bleiben.
Die letzten neun Jahre waren für die Beschäftigten brutal. Zuerst gab es die Austeritätspolitik: eine Steuer auf alle Haushalte, eine allgemeine Sozialabgabe, Müllgebühren und der Versuch, Wassergebühren einzuführen – was aber durch eine Massenbewegung gestoppt wurde. Dann die Kürzungen im öffentlichen Dienst, Stopp des sozialen Wohnungsbaus, reduzierte Löhne für Lehrkräfte, Krankenpfleger*innen und so weiter. Die Folgen waren Obdachlosigkeit und ein Mangel an bezahlbarem Wohnraum, überfüllte Krankenhäuser und beinahe eine Million Menschen, die auf Wartelisten für medizinische Eingriffe stehen.

Beschäftigte aller Einkommensschichten suchten verzweifelt nach Veränderung. Von dieser Anti-Establishment-Stimmung profitierte am stärksten Sinn Fein (SF), die mit 24,5 Prozent stärkste Partei wurde. SF stand in den vergangenen Jahre für eine keynesianistische Politik, für Reformen innerhalb des kapitalistischen Systems.

Historisch stammt Sinn Fein aus einem irisch-republikanischen, nationalistischen Hintergrund und war eng mit dem bewaffneten Kampf der IRA in den 1970ern verbunden . Sie wird von den meisten Menschen aus der Arbeiterklasse als linke Partei gesehen, die den Neoliberalismus ablehnt, den die beiden großen, konzernnahen Parteien jahrzehntelang vorangetrieben haben.

Die Suche nach einer Kraft, die stark genug sein könnte, eine andere Regierung zu bilden, hatte bei der Wahl eine eigene Dynamik. Der Aufschwung von Sinn Fein machte der radikalen Linken etwas zu schaffen. Die Wahlallianz von Solidarity (inklusive der Socialist Party) und von People Before Profit (einschließlich des Socialist Worker Networks) konnte nur fünf ihrer zuvor sechs Sitze verteidigen (leider verlor Ruth Coppinger von der Socialist Party ihren Sitz).

Die Wahlen finden in Irland nach dem Prinzip der übertragbaren Einzelstimmabgabe (»Single Transferable Vote«) statt: In 39 Wahlbezirken werden jeweils zwischen drei und fünf Sitze vergeben. Stimmen für Kandidat*innen, die mehr als das nötige Quorum für einen Sitz erhalten haben, werden anteilig auf die nachfolgende Kandidat*innen übertragen. Dieses System machte sichtbar, dass die SF-Wähler*innen nach ihrem Votum für SF-Kandidat*innen ihre Stimmen an linkere Kandidat*innen übertragen sehen wollten. Die Transferrate von SF-Wähler*innen an die Wahlallianz von Solidarity und People Before Profit lag zwischen 33 und 57 Prozent, während sie für Parteien rechts von Sinn Fein zwischen 7,5 und zwölf Prozent lag.

Regierungsbildung

Es gibt nun drei große Parteien. Sinn Fein hat 37 Abgeordnete, Fine Gael 35 und Fianna Fail 38. Von den vier kleineren Parteien hat Labour sieben Sitze, die Grünen stellen zwölf Abgeordnete, die Sozialdemokraten sechs und Solidarity/People Before Profit fünf, darunter Paul Murphy von RISE. Hinzu kommen drei weitere linke, und dutzende konservative unabhängige Parlamentarier.

Es scheint, dass die irischen Kapitalisten eine »große Koalition« aus Fine Gael und Fianna Fail bevorzugen. Das würde ihnen allerdings die Möglichkeit nehmen, die jeweils andere Partei als »Alternative« und »Opposition« aufzubauen, wenn die Regierung an Unterstützung verliert. Dies ist einer der Gründe, warum sich auch in den beiden Parteien wenig Begeisterung für eine solche Lösung breit macht.

FF und FG haben bisher erklärt, auf keinen Fall mit Sinn Fein in eine Regierung eintreten zu wollen. In der Woche vor der Wahl haben sie ihre Kampagne ganz darauf ausgerichtet, auf die Verbindung von Sinn Fein zur IRA hinzuweisen und vor ihrem angeblich »sozialistischen« Wahlprogramm zu warnen, das die Wirtschaft zerstören werde. Sinn Fein selbst hat allerdings eine Koalition mit FF oder FG leider nicht ausgeschlossen. Die Partei betont, sie seien dafür offen, mit allen zu reden. Doch Verhandlungen mit FF oder FG würden die nötigen Veränderungen zur Disposition zu stellen.

Der Druck auf alle Parteien, Kompromisse zu schließen und eine Regierung zu bilden, kann noch deutlich größer werden. Die Herausforderungen der Brexit-Folge-Verhandlungen und der Corona-Pandemie könnten als Argument dafür genutzt werden, dass Fianna Fail mit Sinn Fein über eine Regierungsbildung verhandelt.
In Nordirland ist Sinn Fein bereits in einer Allparteienregierung, zusammen mit der rechten Democratic Unionist Party. Dass Sinn Fein bereit ist, die Regeln des Kapitalismus zu akzeptieren, bedeutet dort, dass sie auch die Austeritätspolitik mitträgt. Im Süden, in der Republik Irland, akzeptiert Sinn Fein, dass Stadträte öffentliches Land an Immobilienkonzerne verscherbeln. Deshalb müssen wir Druck machen, um zu verhindern, dass Sinn Fein in eine Regierung mit FF oder FG eintritt.

Eine andere Regierung ist möglich

Eine andere Regierung, ohne FF und FG, ist möglich, wenn beide Parteien dazu gedrängt werden können, sich bei einer Wahl der SF-Vorsitzenden Mary Lou McDonald zum Taoiseach, zur Premierministerin von Irland, zu enthalten. In einem solchen Fall könnte die Regierung darum kämpfen, ein Programm mit radikalen Reformen umzusetzen, inklusive eines Verbots von Mieterhöhungen, einer Rückkehr zum Renteneintrittsalter von 65 Jahren und einer Erhöhung des Mindestlohns. Sollte eine solche Minderheitsregierung gestürzt werden, da FF oder FG sich weigern, solche Vorhaben mit zu tragen, so wären das bei Neuwahlen gute Bedingungen für die Linke. Die sozialistische Linke könnte dann in die Offensive gehen und für eine linke Regierung streiten, die bereit wäre, noch deutlich weiter zu gehen.

RISE, People Before Profit und drei linke unabhängige Abgeordnete haben eine Diskussion mit Sinn Fein über eine solche alternative Regierung begonnen. Die Socialist Party lehnte das ab und ihr Abgeordneter, Mick Barry, war leider nicht Teil der Diskussionen. Wir haben darauf gedrängt, dass eine solche alternative Regierung in ihren ersten hundert Tagen ein Programm für massiven sozialen Wohnungsbau auf den Weg bringen sollte, um Obdachlosigkeit zu beenden. Sie könnte tausende Pflegekräfte, Ärzt*innen und medizinisches Fachpersonal einstellen, um eine kostenlose Gesundheitsversorgung mit hoher Qualität für alle zu garantieren.

RISE und unser Abgeordneter Paul Murphy setzen sich dafür ein, dass die revolutionär-sozialistische Linke die Idee einer solchen Regierung verbreitet und anbietet, für die Formierung einer solchen Regierung zu stimmen. Alle folgenden Abstimmungen über Vorhaben dieser Regierung wären dann Einzelfallentscheidungen: Sind sie im Interesse der Arbeiterklasse – gut. Wo sie gegen die Interessen von arbeitenden und unterdrückten Menschen verstoßen, stimmen wir dagegen und organisieren Widerstand.

Bewegung nötig

Wir erwarten nicht, dass die rechten Parteien sich zurücklehnen und zuschauen, wie das passiert. Eine solche alternative Regierung – oder besser noch: eine linke Regierung, die bereit wäre, eine sozialistische Politik der Vergesellschaftungen und demokratischen Kontrolle durchzuführen – müsste sich auf Massenmobilisierungen von Arbeiter*innen und Jugendlichen stützen. Bislang hat sich Sinn Fein von solchen Demonstrationen und Protestaktionen eher distanziert. Darauf aber müssen wir setzen. Rein rechnerisch gab es keine Parlamentsmehrheit dafür, die Wassergebühren abzuschaffen. Es gab keine parlamentarische Mehrheit für die Legalisierung von Abtreibungen, um Frauen die Kontrolle über ihren Körper zu geben. Aber es gab Mehrheiten außerhalb des Parlaments und deren Macht – verkörpert in Massendemonstrationen, Protesten und zivilem Ungehorsam – zwang eine Mehrheit im Parlament, für diese Veränderungen zu stimmen.

Das ist auch in Bezug auf die Formierung einer alternativen Regierung möglich. Wenn es uns gelingt, die Unterstützung der Menschen zu mobilisieren, die unter der Wohnungsnot und dem maroden Gesundheitswesen leiden, wenn wir die Jugendlichen erreichen, die radikale Aktionen zum Schutz des Klimas fordern, dann könnten wir FF und FG wegfegen und damit beginnen, die Veränderungen herbeizuführen, für die die Menschen bei der Wahl gestimmt haben.

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[Dieser Aritkel ist Teil unseres Magazins, „Lernen im Kampf“, Nr. 5]