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Von Versteinerungen und Steinbrüchen

Marxistische Organisationen in der Krise: Revolutionäre Organisierung ist nötiger denn je, aber verkrustete Dogmen und Kommentare von der Seite helfen ebensowenig wie opportunistische Anpassung.

von Stephan Kimmerle, Redaktion Lernen im Kampf

Revolutionäre Sozialistinnen erleben gerade einige Erdbeben. Eine Reihe von Marxistinnen vor allem aus dem Spektrum der Unterstützer*innen der Ideen Leon Trotzkis sehen sich vor die Frage gestellt, wie revolutionäre Organisierung im 21. Jahrhundert noch aussehen kann.
Die wohl größte bislang monolithische trotzkistische Organisation weltweit, das Committee for a Workers´ International, darunter ihre deutschen Gruppe SAV, spaltet sich. Ganz aufgelöst hat sich die amerikanische International Socialist Organization (ISO), die politisch-ideologisch aus der Marx21-Familie stammt und mit rund 1.000 Mitgliedern sowie gewerkschaftlichem Einfluss Gewicht hatte. Die ebenfalls trotzkistische Partido Obrero (PO, Arbeiterpartei) in Argentinien ist ebenfalls im Begriff auseinander zu fallen.
Die jeweiligen Anlässe sind unterschiedlich. Doch ihre zeitliche Nähe verweist schon darauf, dass es sich hier nicht um rein zufällige Entwicklungen handelt.
Hier ein paar Thesen zur nötigen Neuorientierung.

1) Marxistinnen können sich auch in komplizierten Zeiten keine abwartende Haltung leisten.

Die Lage ist kompliziert (drei Euro ins Phrasenschwein). Widerstand gegen die Herrschaft des Kapitals und Diskussionen über Sozialismus gibt es durchaus. Vor allem in den USA (um Bernie Sanders´ Kampagne herum und mit Zehntausenden Neumitgliedern bei den Democratic Socialists of America, DSA) sowie in Großbritannien (rund um Corbyn) hat die Suche nach sozialistischer Politik einen neuen Aufschwung erfahren. In Deutschland sorgt das Berliner Volksbegehren zur Enteignung großer Immobilienkonzerne dafür, die Eigentumsfrage wieder laut hörbar aufzuwerfen.. Doch gleichzeitig ist der Rechtspopulismus mit enger Nähe zu Neonazis international und in Deutschland nach wie vor stark. Und das Bewusstsein von Beschäftigten über ihre Lage als Arbeiterklasse, eine Vorstellung der Überwindung des Kapitalismus und selbst breitere eigene, unabhängige Organisationen, seien es Gewerkschaften oder Parteien, sind nach wie vor im historischen Vergleich äußerst schwach. Antirassistische Mobilisierungen, LGBTQ-Bewegungen, eine neue internationale Frauenbewegung – sie alle erzielten durchaus Erfolge, zum Teil sehr beeindruckende. Doch die dominierenden Ideen innerhalb dieser Bewegungen sind oft Identitätspolitik und linksliberale oder keynesianische Vorstellungen. Das ist kein Zufall. Diese Bewegungen entwickelten sich unter den Bedingungen von 40 Jahren Rückschlägen der Arbeiterbewegung seit den 1980ern und der materiellen und ideologischen Konterrevolution nach dem Fall der stalinistischen Staaten in Osteuropa 1989/91. Klassenkämpferische Ideen könnten verschiedene Bewegungen vereinen und in ihnen die Stärke der Arbeiterklasse sichtbar machen. Das war in den vergangenen Jahrzehnten aber die Ausnahme. Sozialistische Argumente zur Überwindung des Kapitalismus könnten Menschen im Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung zusammenbringen. Sie waren jedoch nach 1989 so schwach wie nie in den letzten 150 Jahren. Unter diesen Bedingungen entwickelt sich eine neue Schicht von Aktivistinnen.

Das macht eine marxistische Analyse und Organisierung, die Anwendung der Übergangsmethode und einen echten Dialog mit ihnen umso notwendiger. Es gilt, kollektiv zu verstehen, wie wir unter diesen, schwierigen und doch auch interessanten Bedingungen eingreifen können in die Auseinandersetzungen um die Selbstbefreiung der Arbeiterklasse und gegen jegliche Formen von Unterdrückung.

Doch eine neue Bereitschaft, sich auf diese komplizierten Situationen einzulassen, zu kämpfen, wo und wie unsere Klasse kämpft, und doch inmitten dieser Kämpfe marxistische Positionen zu vertreten – das ist die Herausforderung. Daraus resultiert die Krise der verschiedenen marxistischen Kräfte. Denn mit erstarrten Ideen und Vorstellungen, mit einer abwartenden Hoffnung auf eine Rückkehr der 1970er geht das nicht.

2) Die Gralshüter werden zum Problem.

Marxismus ist kein heiliger Gral. Doch über Jahrzehnte stemmten sich in den 1990er und den Nullerjahren ein paar erfahrene Anführerinnen verschiedener revolutionär-sozialistischer Organisationen gegen den Gedächtnisverlust, den die Arbeiterbewegung durchlitt. Marxistische Theorie und die erlebte Praxis aus den 1960er, 70er und 80er Jahren wurde verteidigt gegen den neoliberalen Mainstream in der Gesellschaft und die keynesianisch, soziologisch-linke Pragmatik auf der Linken und in Gewerkschaften. Das Problem: Wird Marxismus erst mal als heiliger Gral behandelt, der vor neuen Aktivistinnen geschützt, behutsam weitergegeben werden muss, dann wird schnell aus einem abgeschotteten Marxismus dumpfe Sektenlogik. Die logische Folge ist, dass die Praxis der jeweiligen eigenen Organisation mehr und mehr isoliert von der Arbeiterbewegung eingehegt und kultiviert wird.

Die meisten von uns in Lernen im Kampf kommen aus der Tradition des CWI. Um es deshalb mit unserer Geschichte etwas konkreter zu machen: Wir haben Respekt vor der Lebensleistung von Menschen wie Peter Taaffe (Anführer des CWI). Doch den eingreifenden Marxismus in den Schlachten der Labour-Partei der 1970er und 80er, zum Beispiel in Liverpooler Stadtrat, oder in der Bewegung gegen die Poll Tax, lassen er und seine Organisation heute vermissen. Während die Arbeiterklasse in Britannien versucht, die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn zu ihrem Instrument der Veränderung zu machen, steht seine Socialist Party am Rand. Der mühsam aufgebaute Einfluss wird verspielt in einer zögerlichen, am Ende sektiererischen Haltung gegen den Versuch der Beschäftigten, sich und ihre Gewerkschaften in den Kampf um Labour einzubringen.

Auf internationaler Ebene wurde vom CWI der Kampf in Syriza oder ein Engagement innerhalb der DSA faktisch abgelehnt. Diese »neuen linken Formationen« werden als kleinbürgerlich, im Vergleich zu den Entwicklungen der 1970er Jahre mickrig (vergleiche nur die Mitgliedszahlen von Pasok mit Syriza!), rechts liegen gelassen. Das Problem: Damit wurde auch der Kampf innerhalb dieser Formationen ignoriert, zum Beispiel das Aufbäumen der Linken in Syriza gegen den Tsipras-Flügel. Das Ergebnis ist die Bestätigung der Ausgangsthese: Mit Syriza kann es nur Verrat geben. Doch wo war der Beitrag von Marxistinnen im Kampf darum, eine Alternative aufzuzeigen, zumindest denjenigen Arbeiterinnen und Jugendlichen, die versuchten, sich mit Syriza gegen die Brutalitäten des deutschen Imperialismus zu wehren?

Aus in Kämpfen verankerten Marxistinnen in den 1970ern und 80ern werden Kommentatorinnen. Das ist tragisch und muss überwunden werden.

3) Besonders schlimm wird es, wo es eigentlich aufwärts geht.

Mit den alten Dogmen finden sich Marxistinnen kaum zurecht in der heutigen Welt. Das gilt besonders – aber nicht nur – dort, wo es in der Gegenwehr aufwärts geht. Konnten in den USA die beiden größten Gruppen, ISO und Socialist Alternative (verbunden mit dem CWI) bis 2015 Fortschritte verbuchen, kamen beide gerade in den Zeiten der größten Suche nach sozialistischen Ideen in die Krise. Zuerst stellte Bernie Sanders trotzkistische Weisheiten in Frage: Er mobilisierte Massen für eine »politische Revolution gegen die Millilardärs-Klasse« und popularisierte eine Debatte um Sozialismus. Doch er versuchte, die durch und durch kapitalistische Demokratische Partei und ihren Vorwahlkampf dafür zu instrumentalisieren – mit enormem Erfolg und um den Preis zukünftiger Probleme. Das passte nicht ins Muster marxistischer Dogmatik. Die ISO stand prinzipenfest abseits und war sich genug, Sanders zu kritisieren – ohne wirklich zu versuchen, auch nur Einfluss zu nehmen auf die Millionen, die Sanders radikalisierte. Socialist Alternative versuchte zunächst noch aktiv eingreifend, mit »Movement for Bernie« an den Debatten teilzunehmen. Doch als sich nach Trumps Wahlsieg die Radikalisierung und Suche nach Alternativen in einer Mitgliederexplosion der Democratic Socialists of America (DSA) nieder schlug, verharrte die Organisation am Rande. Mittlerweile schließen sich mehr und mehr ehemalige Mitglieder dieser Organisationen individuell der DSA an. Das ist gut. Doch leider geschieht dies nun oftmals aus Not und Frustration heraus, nicht als Teil einer selbst gewählten Aufgabe, zukünftige revolutionäre Organisierung voran zu bringen und sich als Marxistinnen den neuen Herausforderungen selbstbewusst zu stellen.

4) Der Zentralismus der Gralshüterinnen killt Demokratie.

Die Gralshüterinnen des Marxismus argumentieren ungefähr so: Ohne revolutionäre Partei keine Revolution. Ohne die von uns gehüteten marxistische Ideen keine revolutionäre Organisation. In Anlehnung an Trotzki: Wenn Lenin Anfang 1917 von einem Ziegelstein erschlagen worden wäre, wäre die Russische Revolution nicht geglückt. Ohne Trotzki keine Vierte Internationale. Ohne mich keine zukünftige revolutionäre Organisierung.

Das wird so ähnlich auch in den Diskussionen rund um den Zusammenbruch der US-amerikanischen ISO erörtert. David McNally thematisiert dies hier, tinyurl.com/McNallyNextLeft, und John Molyneux antwortet hier, tinyurl.com/JohnMolyneux

Da bleibt wenig Spielraum für Demokratie, Entwicklung von selbstständig denkenden Revolutionärinnen oder für eine offene Debatte. Da kann es dann schon mal passieren, dass, wenn die Anführerinnen etwas an ihrer Weitsicht verlieren, die ganze Organisation einfach aus breiten linken Debatten um Corbyn, Brexit, sozialistischen Feminismus oder Ökologie raus kippt – und keiner merkt´s.

In Worten wird dabei von »Demokratischem Zentralismus« geredet: Demokratie in der Entscheidungsfindung, Einheit in der Umsetzung. Wenn aber das Schicksal der kommenden Revolution von den Gralshüterinnen selbst abhängt, und die zentrale Aufgabe dieser Anführerinnen aus ihrer Sicht darin besteht, marxistische Ideen zur Not gegen die eigenen Mitglieder zu verteidigen, dann wird das ganze schnell zur Farce. Was vom »DZ« bleibt, ist die Steuerung der Debatte durch die Führung – um jeden Preis.

5) Die Aufgabe revolutionärer Organisierung bleibt.

Die Diskussionen international, zum Beispiel nach der Auflösung der US-amerikanischen ISO, zeigen, wie unterschiedlichste Genoss*innen mit der Situation ringen. Wir alle können jede Menge voneinander lernen. Es geht aber auch darum, die wichtigste Lehre des 20. Jahrhunderts ins 21. mitzunehmen: Immer wieder versuchte die Arbeiterklasse, den Kapitalismus zu beenden. Ohne vereinheitlichende Kraft, ohne in den Betrieben, Büros und Stadtteilen verankerte Partei, ohne organisierte Mitglieder, die gemeinsam in Gewerkschaften und den unterschiedlichsten Kämpfen gegen Unterdrückung verortet sind, gelingt es der Arbeiterklasse nicht, eine sozialistische Gesellschaft zu erkämpfen.
Die eigene Organisation mit einem Embryo einer solchen zukünftigen Massenpartei zu verwechseln, führt zu bitteren Enttäuschungen. Die verschiedenen Gruppen der revolutionären Linken sind in sich politisch homogen und das hilft, eine gewisse Klarheit zu vermitteln und Kader auszubilden. Doch eine zukünftige revolutionäre Organisierung wird viele unterschiedliche Strömungen zusammenbringen und heterogener und lebendiger sein, als alles, was wir heute aufbauen können.

Trotzdem ist der Beitrag der verschiedenen heute existierenden Kleingruppen wichtig. Wenn es uns gelingt, prinzipienfest in Massenbewegungen einzugreifen, dann lernt nicht nur unsere Klasse, dann lernen auch wir im Kampf. Darum geht es.
Die vergangenen Jahrzehnte haben mit ihren harten Bedingungen zu manchen Versteinerungen bei marxistischen Organisationen geführt. Jetzt kommt es zu Steinbrüchen. Das ist bitter. Ob es längerfristig ein Nachteil ist, hängt an uns.

Lesetipp:
→ „Out of the clear blue sky? Understanding the Roots of the CWI Crisis and Finding a Way Forward“
Ein ausführliches Dokument zur Krise revolutionärer Organisationen, verfasst von ehemaligen CWI-Mitgliedern aus Deutschland (Lernen im Kampf) und den USA (Reform & Revolution):
Bestellbar über die Redaktion, per email: lernenimkampf@gmail.com