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Die Linke in den USA: What’s left?

Was passierte mit Bernie Sanders Wahlkampagne und was kann die Linke jetzt tun?

von Mimi Harris
(erschienen im Magazin „Lernen im Kampf“, 5. April 2020)

Mimi Harris wurde Ende März zu einer der beiden Vorsitzenden der Democratic Socialists of America (DSA) in Seattle gewählt. Sie ist Mitglied der DSA-Plattform »Reform & Revolution« und arbeitet in einem Lieferzentrum von Amazon als Lagerarbeiterin.

[Dieser Aritkel ist Teil unseres Magazins, „Lernen im Kampf“, Nr. 5]

Angesichts der COVID-19-Krise sind die USA großteils lahmgelegt. Überall tönt es: »We are all in this together«, wir sitzen alle im selben Boot. Aber während viele von uns ihre Arbeit in Krankenhäusern, Supermärkten, im Zustelldienst und in Lieferzentren machen – ohne Gesichtsschutz und ohne Gefahrenzulage – ist klar, dass in dieser Krise eine tiefe Trennlinie zwischen den Klassen verläuft.

Da waren die Politiker, die in geheimen Sitzungen über die Pandemie informiert wurden und daraufhin Millionen an Aktien verkauften, während sie ihren Wähler*innen versichern, es gebe keinen Grund zur Besorgnis. Amazon macht beträchtliche Profite, doch seinen Angestellten verweigert der Konzern sichere Arbeitsbedingungen. Und mit dem vom US-Kongress verabschiedeten Rettungspaket werden Milliarden an Konzerne wie Boeing verschenkt, während arbeitende Menschen aufgefordert werden, sich der Situation »anzupassen«.

Das Coronavirus hat die Vorwahlen der Demokratischen Partei durcheinander gebracht und die schroffen Gegensätze verdeutlicht, die dort im Angebot sind: Während Joe Biden sich weitgehend von der politischen Arena fern hielt, als die USA in die Krise taumelte, kämpfte Bernie Sanders im US-Senat dafür, die Unterstützung für alle Erwachsenen im Land auf 2.000 Dollar pro Monat und für alle Kinder auf 1.000 Dollar pro Monat zu erhöhen. Das ist deutlich mehr als die Einmalzahlung von 1.200 Dollar, die letztlich vom Kongress beschlossen wurde.

Bernies Forderung nach »Medicare for All«, einer kostenlosen steuerfinanzierten Gesundheitsversorgung für alle, ist drängender denn je. Der erste Todesfall eines Teenagers in den USA durch COVID-19 ging nach Presseberichten darauf zurück, dass er von einer medizinischen Einrichtung abgewiesen worden war, denn er hatte keine Versicherung.

Sanders griff auch die Forderungen nach einer fairen Bezahlung und sicheren Arbeitsbedingungen in einer Unterschriftensammlung von Amazon-Beschäftigten auf.
Aber die Vorwahlen der Demokraten waren schon weitgehend entschieden, als die Corona-Pandemie begann, die meisten Bereiche des Lebens in den USA zu dominieren. Die alles entscheidende Frage dabei war es, Trump los zu werden: Wer kann das, nach Ansicht der Wähler*innen der Demokratischen Partei, am ehesten schaffen? Die Mehrheit denkt offenbar, das sei Joe Biden. Bernie Sanders hat kaum noch eine Chance auf die Nominierung.

Wie ist das passiert?

Nur wenige haben das Mitte Februar für möglich gehalten. Sanders gewann die ersten drei Vorwahlen sehr deutlich. Er sahnte in Nevada ab, wo die Beschäftigten der Casinos, Hotels und Bars in Las Vegas und Reno trotz anderer Vorgaben der Führung ihrer einflussreichen Gewerkschaft für Sanders stimmten. Beinahe 60 Prozent der Wähler*innen der Demokraten in Texas und Kalifornien sehen Sozialismus (in etwas unbestimmter Form) als etwas Positives. 72 Prozent unterstützen die Abschaffung der Studiengebühren.

Aber die Unterstützung für Bernies Vorschläge übertrug sich nicht eins zu eins auf den Kandidaten Sanders. Dieselben Menschen, die sich für eine einheitliche staatliche Krankenversorgung aussprachen und zudem sagten, Gesundheitsversorgung sei ihr wichtigstes Anliegen, stimmten dann für Joe Biden – den Kandidaten, der immer wieder betonte, er wolle die privaten Versicherer nicht zugunsten einer einheitlichen Krankenversorgung abschaffen, sondern nur eine »öffentliche Option« anbieten. Das wäre eine zusätzliche, vom Staat angebotene Krankenkasse. Das würde die Kosten für viele nicht senken und ließe immer noch Millionen ohne Versicherung außen vor.

Die Große Konsolidierung der Moderaten

Im Januar und im Februar war es fast schon etwas peinlich, Joe Biden zu unterstützen. Seine Kampagne bestand aus einer Aneinanderreihung von sprachlichen Aussetzern, unangebrachtem Verhalten und Medienberichten über üble Positionen, die er über Jahrzehnte als Verkörperung des Establishments vertreten hat. Im Lauf seiner Karriere hat er mit Begeisterung den sogenannten »Krieg gegen Drogen« unterstützt, der zur massenhaften Inhaftierung von Afroamerikaner*innen in den USA geführt hat. Er war einer der lautstärksten Befürworter des Irak-Kriegs innerhalb der Demokratischen Partei. Er stimmte für einen Antrag im US-Kongress, der es untersagte, dass Bundesgelder zur Finanzierung von Abtreibungen verwendet werden. Er stimmte gegen die Homoehe und sprach sich wiederholt für Kürzungen bei den sozialen Sicherungssystemen aus.

Das war der Hintergrund, vor dem zahlreiche andere Kandidaten an ihre Chance glaubten: Pete Buttigieg war eine viel schmackhaftere Version von Biden. Elizabeth Warren war ein Angebot für all jene, die ihren progressiven Anschein behalten wollten, während sie insgeheim Bernies »politische Revolution« fürchteten. Amy Klobuchar war da für alle, die offen und stolz ihre neoliberalen Ideen vor sich her tragen. Andrew Yang stand für ein neoliberales Modell eines bedingungslosen Grundeinkommens. Und dann war da noch Bloomberg für all jene, die vor allem durch seine hunderte von Millionen Dollar teure Werbekampagne darauf aufmerksam wurden, dass eine Wahl stattfand. Aber es war beinahe Allgemeinwissen, dass Joe Biden keinen Stich mehr machen würde.

Und dann kam die Große Konsolidierung.

Jim Clyburn, ein prominenter schwarzer Establishment-Politiker der Demokraten aus dem Bundesstaat South Carolina erklärte seine Unterstützung für Biden. Es gelang Biden, sich für afroamerikanische Wähler*innen als sichere Option zu präsentieren, um Trump los zu werden. Gestützt auf seine Verbindung zu sogenannten progressiven afroamerikanischen Anführern aus den Reihen der Demokraten – und weil Bernies Kampagne im Süden der USA und bei schwarzen Wähler*innen noch nicht genug Verankerung hatte – gelang es Biden am 29. Februar, die Vorwahlen in South Carolina mit sehr deutlichem Vorsprung für sich zu entscheiden.

Innerhalb von Stunden, gerade noch rechtzeitig vor den Wahlen in fünfzehn Bundesstaaten am »Super Tuesday«, dem 3. März, wurde Biden wieder zu einem ernsthaften Kandidaten. Die Dynamik des Wahlkampfes war gekippt. Und das änderte sich auch nicht mehr.

Der ehemalige US-Präsident Barack Obama hatte sich dafür ans Telefon geklemmt. Buttigieg verließ das Rennen und erklärte seine Unterstützung für Biden. Am nächsten Tag machte das Klobuchar genauso. Und dann Bloomberg.
Schließlich gab auch Warren ihre Ambitionen auf, weigerte sich aber, Sanders oder Biden formal zu unterstützen. Das war ein Erfolg für Biden, denn Warren war die einzige andere linke Kandidatin neben Sanders. Im Duell zwischen einem business-as-usual-Kandidaten und einer »politischen Revolution« ist »Neutralität« nichts anderes als eine Stimme für den Status Quo.

Junge Leute: etwas mysteriös

Es war erwartet worden, dass junge Wähler*innen verstärkt an den Vorwahlen teilnehmen würden. Das hätte Sanders enorm geholfen, da er bei ihnen in Umfragen außerordentlich gut abschnitt. Doch das fand nicht statt.
Es sind mehr Diskussionen auf der Linken nötig, warum das so war. Auf der einen Seite gab es keine größere Bewegung, die geholfen hätte, Millionen von jungen Menschen zu erreichen und zu aktivieren. Bernie setzte nicht genug darauf, Proteste zu organisieren. Aktionstage für kostenlose Bildung hätten eine große Wirkung an den Unis haben können. Proteste rund um die Klimakatastrophe hätten dazu geführt, dass mehr Leute die Unterschiede zwischen Politikern erkennen, die das angeblich alle ganz ernst nehmen.

Es kann aber auch sein, dass junge Leute eher den Glauben an das Wahlprozedere verloren haben. Nach den Vorwahlen in der Demokratischen Partei von 2016 fühlten Millionen junger Menschen, dass dabei mit gezinkten Karten gespielt worden war. Sie setzten darauf, die Demokratische Partei zu reformieren. Aber diese Versuche endeten ebenfalls in einer Sackgasse. Hillary Clinton, als kleineres Übel zu Trump, hatte mehr Stimmen gewonnen als der Rechtspopulist – und trotzdem verloren. Dann kamen die Parlamentswahlen 2018 und Junge und Ältere gleichermaßen sorgten für eine hohe Wahlbeteiligung, änderten die Mehrheitsverhältnisse im Repräsentantenhaus zugunsten der Demokraten – und doch macht Trump einfach weiter wie gehabt. Viele junge Leute fragen sich daher möglicherweise: Was soll das alles mit diesen Wahlen?

Hat die Linke verloren?

Angesichts der hohen Erwartungen Mitte Februar war diese Wendung ein herber Schlag. Und sie ist besonders bitter angesichts dessen, was auf dem Spiel steht: eine Pandemie, die in den USA auf 44 Millionen Menschen ohne ausreichende Gesundheitsversorgung trifft und die Notwendigkeit einer kostenlosen Gesundheitsversorgung für alle besonders unterstreicht.

Aber Sanders Kampagne war ein riesiger Schritt nach vorn für die Linke.
Um es sehr klar zu sagen: Wir haben voll und ganz verloren. Wir kannten die Bedingungen der Auseinandersetzung vorher. Wir haben uns nicht nur mit Biden angelegt, sondern mit den kapitalistischen Medien, die pflichtschuldig ihre Rolle erfüllten und für Kandidaten des Establishments warben. Die Vorwahlen wurden von der Führung der Demokratischen Partei kontrolliert, die sich nicht besonders darum scherte, ob jüngere Wähler*innen ihre Stimme abgaben und abgeben konnten. Der Wahlparteitag – wenn wir es denn bis dahin geschafft hätten – war so vorbereitet, dass auch dort noch einige Tricks möglich gewesen wären, um Bernies Nominierung zu verhindern.

Aber wir alle kannten diese Bedingungen von Anfang an. Und wir kämpften trotzdem. Warum? Wir hatten wenig zu verlieren und sehr viel zu gewinnen. Und wir haben große Erfolge zu verbuchen.

Eine Million Menschen haben sich als Freiwillige für Bernies Kampagne registriert. Er erhielt 180 Millionen Dollar an Unterstützung, vor allem durch kleine Einzelspenden.

Das ist deutlich mehr als allen anderen Kandidat*innen zur Verfügung stand, mit Ausnahme von Bloomberg, der sich selbst einen noch größeren Scheck ausstellte und keinerlei Spenden einnahm.

Die Democratic Socialists of America, DSA, war – weit mehr als 2016 – eine unabhängige, organisierte Kraft, die eine große Rolle in der Wahlkampagne spielte. Die DSA ist daraus gewachsen und wird weiter signifikant stärker werden, obwohl die Menschen ein anderes Ergebnis erhofft haben.

Aber wir haben einen langen Weg vor uns. Die Kampagne haben wir nicht wegen unserer Ideen verloren, sondern wegen dem Mangel an Organisation.
Wir hatten wundervolle Momente, wie der Erfolg bei den Casino-, Hotel- und Bar-Beschäftigten in Nevada. Aber wir müssen in den Gewerkschaften mehr Einfluss gewinnen. Unsere Verankerung in schwarzen Communities war trotz der Unterstützung vieler junger Leute nicht tief genug, um dem Gewicht von schwarzen etablierten Anführer*innen etwas entgegensetzen zu können.

Wir haben Millionen junger Menschen Energie verliehen, aber wir waren letztlich nicht in der Lage, das auch in Stimmen umzumünzen.

Wir müssen uns im Süden der USA ausdehnen. Wir müssen uns auf dem Land und in den Vorstädten ausdehnen. Obwohl unsere Präsidentschaftskampagne für Sanders die am meisten diverse im Land war, was aktive Unterstützung angeht, brauchen wir doch viel mehr People of Color und Frauen, die sich uns anschließen.
Wir müssen mehr machen, als nur Kandidat*innen zu unterstützen. Wir müssen auch eigene Wahlkampagnen starten, deren Politik wir auch kontrollieren.

Organisierung hin zu einer Partei

All das verlangt nach mehr als nur einmaligen Kampagnen. Wenn Bernies Kampagne tatsächlich an ihr Ende kommt, brauchen seine hunderttausende Unterstützer*innen einen Ort, sich zu organisieren und ihre Kämpfe für die Themen fortzusetzen, die ihnen wichtig sind.

Die DSA mit ihren 60.000 Mitgliedern und einem ausdrücklich sozialistischen Programm ist dafür sehr gut positioniert und kann sich als eine klassenorientierte, auf Bewegungen setzende Organisation gut anbieten. Das brauchen wir, um kostenlose Gesundheitsversorgung für alle, einen Green New Deal – ein massives grünes Investitionsprogramm – und viele weitere Reformen zu gewinnen, die eine ganze neue Generation von Aktivist*innen inspiriert.

Aber die DSA kann mehr als das. Sie kann die Grundlage legen, eine politische Alternative, eine demokratisch-sozialistische Partei aufzubauen.

Viele Menschen sind vom Zwei-Parteien-System desillusioniert. Die Diskussion darüber, wie eine neue Partei aufgebaut werden kann, können jetzt forciert werden. Dabei reicht es nicht, einfach eine neue Partei zu proklamieren. Und es ist wichtig, den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.

Einige auf der radikalen Linken rufen dazu auf, zeitgleich mit dem Wahlparteitag der Demokraten im Juli eine Konferenz für eine neue Partei abzuhalten. Ich glaube, wir können ein deutlich größeres Echo erzielen, wenn wir dafür zunächst den Boden bereiten: Wir können nicht die Realität der Präsidentschaftswahl im November ignorieren, bei der es eine große Sehnsucht geben wird, Trump loszuwerden (obwohl ich fürchte, dass das nun schwer wird).

Für eine neue Partei brauchen wir Wurzeln in den Gewerkschaften, wir brauchen eine Basis in den Kämpfen der unterdrückten Menschen. Wir müssen die Millionen von Sanders-Unterstützer*innen zusammenbringen, die die Demokratische Partei nicht einmal versucht zu vertreten.

In vielerlei Hinsicht agiert die DSA bereits als linke Partei: Sie stellt Kandidat*innen auf als DSA-Mitglieder, auch wenn diese formal oft als Demokrat*innen antreten. Sie hält Mitgliederversammlungen ab, um Prioritäten fest zu legen und Haltungen einzunehmen, sie startet Kampagnen und unterstützt Arbeiter*innen in ihren Kämpfen und sie kritisiert die Demokratische Partei sowie das Zwei-Parteien-System.

Aber das ist nicht genug. Es ist Zeit für eine offene Diskussion darüber, bewusst auf den Aufbau einer neuen Partei hinzuarbeiten – als ein Mittel, die verschiedenen Kräfte zusammenzubringen mit dem expliziten Ziel: Bruch mit der Demokratischen Partei, zu unseren Bedingungen, wenn wir so weit sind. Dieses Selbstbewusstsein ist der Schlüssel. Und all das schließt nicht aus, vorerst auch auf dem Ticket der Demokratischen Partei bei Wahlen anzutreten, wenn wir denken, dass das hilfreich ist.

Eine Mehrheit in der DSA ist meiner Meinung nach sehr offen für diese Diskussion, aber die Schlussfolgerungen sind noch nicht gezogen.

Der erste Schritt für die DSA könnte es sein, Anfang 2021, wenn die Präsidentschaftswahl vorbei ist, regionale Konferenzen zu organisieren, um die Formierung einer neuen demokratisch-sozialistischen Partei zu diskutieren. Zusammen mit anderen war ich beteiligt, dafür eine Unterschriftensammlung zu starten:
tinyurl.com/DemSocParty

Als Bernie 2016 zum ersten Mal bei den Präsidentschaftswahlen antrat, waren viele schockiert, dass er sich offen als demokratischer Sozialist bezeichnete. Aber dann hat sich die Welt verändert, neue Möglichkeiten sind entstanden. Mit der Erfahrung der vergangenen vier Jahre schauen sich eine Menge Menschen nach einer Alternative um. Wir haben in vielerlei Hinsicht bereits die Strukturen einer neuen Partei aufgebaut. Jetzt ist die Zeit, Menschen mit diesem Ziel zu organisieren und dieses Ziel klar zu vertreten.

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