Betrieb und Gewerkschaft, Hintergrund

Humane Psychiatrie braucht Zeit

Gute Personalaus­stattung ist Grundlage menschenwürdiger Psychiatrie. Sie wird aktuell verhandelt

von Gisela Neunhöffer

MEHR VON UNS IST BESSER FÜR ALLE! – Kommt am 5. Juni zur bundesweiten Demonstration anlässlich der Gesundheitsminister*innenkonferenz nach Leipzig!

Der folgende Artikel ist Teil der Mai-Ausgabe des Magazins „Lernen im Kampf“, das hier bestellt werden kann.

Im März 2019 berichtete das »Team Wallraff« in einer fast zweistündigen RTL-Dokumentation über erschreckende Missstände in mehreren psychiatrischen Kliniken und einer stationären Jugendeinrichtung: Alleingelassene Patient*innen, überbelegte und chaotische Stationen, überlastetes Pflegepersonal, aggressive und gewalttätige Situationen, respektloser Umgang – und das in Kliniken, in denen Patient*innen auch gegen
ihren Willen untergebracht werden. Gerade in der Zwangsinstitution Psychiatrie erweist sich, inwieweit die menschliche Würde geachtet wird. Voraussetzung dafür ist genug qualifiziertes Personal. Denn eine gute psychiatrische Behandlung heißt vor allem eins: Beziehungsarbeit. Und diese braucht Zeit.

Personalmangel im Gesundheitswesen wohin man nur blickt – hier bei einer Protestaktion der Beschäftigten des Berliner Vivantes-Konzerns 2016. Foto: Christoph Wälz

»Wenn man so zusammenschneidet, hätte man das bei uns auch drehen können«, sagen Beschäftigte aus psychiatrischen Kliniken über die Wallraff-Dokumentation. Doch leider hat es RTL in der skandalisierenden und verkürzten Darstellung komplett unterlassen, auf die Ursachen der Zustände einzugehen. Auf aktuelle Debatten über die Finanzierung der Psychiatrie, notwendige strukturelle Veränderungen und die Reform der Personalbemessung wird nicht Bezug genommen. Dabei stehen entscheidende Weichenstellungen bevor, die die Si­tua­tion in der Psychiatrie auf Jahre hinaus prägen werden: Kliniken und Krankenkassen verhandeln im Gemeinsamen Bundes­ausschuss hinter verschlossenen Türen über eine neue Personalbemessung. Ver.di ist nicht daran beteiligt – erst nach langem Tauziehen wurde der größten Organisation der Beschäftigten in den psychiatrischen Krankenhäusern kürzlich überhaupt ein Recht auf Stellungnahme eingeräumt. Doch die Be­schäftigten machen mit betrieb­lichen Aktionen Druck für bedarfsgerechte Vorgaben.

Aufbruch in den 1970ern

Wie in anderen Bereichen gab es in den 1970er Jahren auch in der Psychiatrie einen gesellschaftlichen Aufbruch, symbolisiert durch einen großen Bericht über Zustand und Ziele der psychiatrischen Versorgung, die »Psychiatrie-Enquete«. Man wollte weg von der Verwahrpsychiatrie, die auf die Euthanasiemorde an psychisch kranken Menschen im Nationalsozialismus gefolgt war.

Die »Psychiatrie-Enquete« hat die Psychiatrien verändert. Möglich gemacht wurde dies vor allem durch das große Engagement vieler reformorientierter Psychiatriebeschäftigter, von Angehörigen und Psychiatrieerfahrenen. Im Zuge der Reformen trat auch die Psychiatrie-Personalverordnung (PsychPV) 1991 in Kraft. Diese schrieb fest, wie viele Ärzt*innen, examinierte Pfleger*innen, Sozialarbeiter*innen, Psycholog*innen, Ergo- und Physiotherapeut*innen sich um die Patient*innen, je nach ihrem Behandlungsstadium, kümmern sollten. Damit ist die Psychiatrie bis heute der einzige Bereich im Gesundheitswesen mit einer verbindlichen Personalbemessung für die medizinisch-therapeutischen Berufsgruppen.

Diejenigen, die diese Veränderungen Anfang der 1990er-Jahre miterlebt haben, erzählen noch heute mit Begeisterung davon, was plötzlich alles möglich wurde an Behandlung, Gruppenarbeit, Angeboten und individueller Beziehungsarbeit. Letztere ist das große Stichwort in der Psychiatrie – damit die Seele heilen kann, müssen die Behandelnden einen Zugang zu ihr finden.

Finanzierungssystem

Seit 2009 wurde versucht, nach dem Beispiel der Allgemein­krankenhäuser auch in der Psychiatrie ein wettbewerbsorientiertes Finanzierungssystem einzuführen, das »Pauschalierte Entgeltsystem für Psychiatrie und Psychosomatik« (PEPP), und in diesem Zuge die PsychPV zu streichen. Doch Behandlungsverläufe in der Psychiatrie sind nicht standardisierbar. Aufwändige Fälle werden für das Krankenhaus im Pauschalensystem zur finanziellen Belastung. Nach breitem Widerstand gegen PEPP musste das Gesundheitsministerium 2016 nachgeben. Die Reform wurde teilweise zurückgenommen, verbindliche Personalregelungen in neuer Form sollten entstehen. Doch immer noch werden die Krankenhäuser gezwungen, nach PEPP abzurechnen. Leistungen, die dort nicht vorgesehen (oder nicht korrekt dokumentiert) sind, werden auch nicht vergütet. Wertvolle Arbeitszeit geht in die Dokumentation statt in die Behandlung.

Das verschärft den Personalmangel:

◼ Gelder für das Personal werden in Baustellen gesteckt, da die Investitionskosten der Krankenhäuser von den dafür zuständigen Bundes­ländern nicht ausreichend finanziert werden.

◼ Zahlreiche psychiatrische Krankenhäuser oder Häuser mit psychiatrischen Fachabteilungen wurden privatisiert. Sie sind hohen Renditeerwartungen ausgesetzt.

◼ In den vergangenen 30 Jahren hat sich die Psychiatrie wesentlich weiterentwickelt. Das Personal bekam zahl­rei­che neue Aufgaben, neue Berufsgruppen sind entstanden. Der Personalschlüssel blieb jedoch unverändert.

◼ Die Psychiatriegesetze der Länder und das Bundesverfassungsgericht haben die Rechte psychisch kranker Menschen zuletzt gestärkt. Die zwangsweise Behandlung mit Medikamenten und Zwangsmaßnahmen wie die Fixierung ans Patientenbett zur Vermeidung von Eigen- oder Fremdgefährdung müssen inzwischen richterlich angeordnet werden und sind nur unter Auflagen möglich. Die Fixierung ist nur als »letztes Mittel« zulässig. Fixierte Patient*innen sind durch eine Fachkraft eins zu eins zu betreuen. Diese begrüßenswerten Veränderungen können jedoch nur mit mehr Personal auch in die Praxis umgesetzt werden.

Neue Personalbemessung

Tatsache ist: An den meisten Kliniken wird heute unterhalb des vorgegebenen, ohnehin veralteten Personalschlüssels gearbeitet. Dass es ab 2020 weiterhin eine verbindliche Regelung ge­ben soll, ist ein Riesenerfolg. Die Frage ist jetzt, wie diese aus­sehen wird. Entscheiden sollen darüber laut Gesetzestext Krankenhäuser und Krankenkassen. Der Anspruch muss sein, die angestrebte Humanisierung der Psychiatrie auch personell umsetzen zu können.

Die Gewerkschaft ver.di, die zehntausende Psychiatriebe­schäftigte vertritt, hat dazu Prüfsteine vorgelegt und fordert eine »PsychPVplus«. Eine breite Koalition von Verbänden hat mit dem sogenann­ten »Plattform-Konzept« einen Vorschlag zur Struktur der Neuregelung vorgelegt.

Doch die beiden großen Blöcke blockieren sich gegenseitig: Die Krankenkassen wollen große Kostensteigerungen durch mehr Personal vermeiden und fordern mehr Transparenz von den Krankenhäusern. Diese wiederum nehmen mehr Geld für Personal gern mit – möchten aber selbst entscheiden können, wofür sie es ausgeben.

Ver.di organisiert Aktionen vor Ort und eine Unterschriften­samm­lung für die Forderung nach einer PsychPVplus. Am 5. Juni werden Beschäftigte psychiatrischer Häuser bei der Gesundheitsministerkonferenz in Leipzig dafür erneut auf die Straße gehen – gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus allen Bereichen des Gesundheitswesens. Weitere Aktionen sind in Planung. Es ist gut möglich, dass sich Beschäftigte, Patient*innen und alle an guter Versorgung Interessierten noch deutlicher für ihre Interessen einsetzen müssen, um eine gute Personalausstattung und damit menschenwürdige psychiatrische Behandlung möglich zu machen.

Gisela Neunhöffer ist in der ­­ver.di- Bundesverwaltung zuständig für psychiatrische Einrichtungen.