Die Linke und die Macht, Hintergrund, Schwerpunkt

Mieterbewegung mit Eigenbedarf

In Berlin ist eine beispiellose Kampagne ins Rollen gekommen. Immobilienkonzerne mit einem Eigentum von mehr als 3.000 Wohnungen sollen enteignet werden, so das Ziel der Kampagne »Deutsche Wohnen & Co enteignen«

von Christoph Wälz

Der Artikel ist Teil der Mai-Ausgabe des Magazins „Lernen im Kampf“, das hier bestellt werden kann.

Vor 15 Jahren war Berlin noch eine Stadt, in der es möglich war, alle paar Jahre die Wohnung zu wechseln. Die Hauptstadt der Mieter*innen stand im bundesweiten Schnitt der Großstädte bei der Miethöhe vergleichsweise akzeptabel da. Inzwischen haben massive Mietsteigerungen zu Verdrängung und sprunghaft steigender Obdachlosigkeit geführt.

Foto: Florian Wilde

Seit einigen Jahren mobilisiert eine in vielen Kiezen verankerte Bewegung gegen diesen Mietenwahnsinn. Im April 2018 gingen 25.000 Mieter*innen auf die Straße. Dabei fand die Forderung nach einer Enteignung großer Immobilienkonzerne, allen voran der »Deutsche Wohnen«, die in Berlin über 111.000 Wohnungen besitzt, großen Anklang. Daraus entstand eine Initiative, die über ein Volksbegehren Druck auf den rot-rot-grünen Senat machen will und im April 2019 mit weit über 40.000 Menschen die größte Mie­terdemo seit Jahrzehnten organisierte.

Wie hältst du’s mit dem Eigentum?

Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik soll Artikel 15 des Grundgesetzes genutzt werden, der eine Enteignung von Grund und Boden, sowie der darauf stehenden Immobilien oder Produktionsanlagen ermöglicht. Die­ser Artikel geht über die üblichen Enteignungen von Privatgrundstücken für den Autobahnbau (Art. 14) weit hinaus. Denn es geht um eine Überführung von Grund und Boden in öffentliches Eigentum zum Zweck der Umverteilung des gesell­schaftlichen Reichtums. Damit müsste die Entschädigung bei einer Enteignung deutlich unter Marktwert ausfallen, um ihren Zweck zu erfüllen.

Diese Forderung kam aus der Bewegung. Gerade die Mieter*innen der »Deutsche Wohnen« leiden unter einer Mietenexplosion und der Vernachlässigung des Bestands. Es geht um Notwehr, um Eigenbedarf der Mieter*innen. In nur wenigen Monaten hat es die Kampagne geschafft, die Immobilienlobby in der öffentlichen Diskussion in die Defensive zu drängen. Die Unterstützung für Enteignung in der Bevölkerung steigt kontinuier­lich an. Schon wird vor Sozialismus gewarnt. Die AfD malt eine »DDR 2.0« an die Wand.

Der Landesparteitag der LINKEN hat die Forderung mit großer Mehrheit übernommen, Grüne und SPD zögern noch, spüren aber den Druck. So will die SPD jetzt alle Mieten für fünf Jahre deckeln, also weiteren Anstieg gänzlich stoppen. Man reibt sich die Augen, was auf einmal möglich ist, wenn es ans Eigentum geht! Mit der Enteignungsfrage will sich die SPD intensiv befassen und im November entscheiden.

Arbeiterbewegung für Sozialisierung

Für die Arbeiterbewegung war die Frage des Eigentums an Grund und Boden sowie an Produktions­mitteln immer entscheidend. So hieß es 1848 im Kommunistischen Manifest, dass »der erste Schritt in der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie ist. Das Proletariat wird seine politische Herrschaft dazu benut­zen, der Bourgeoisie nach und nach alles Kapital zu entreißen, alle Produktionsinstrumente in den Händen des Staats, das heißt des als herrschende Klasse organisierten Proletariats, zu zen­tra­lisieren und die Masse der Produktionskräfte möglichst rasch zu vermehren. Es kann dies natürlich zunächst nur geschehen vermittelst despotischer Eingriffe in das Eigentumsrecht und in die bürgerlichen Produktionsverhältnisse, durch Maßregeln also, die ökonomisch unzureichend und unhaltbar erscheinen, die aber im Lauf der Bewegung über sich selbst hinaustreiben und als Mittel zur Umwälzung der ganzen Produktionsweise unvermeidlich sind.«

In der Novemberrevolution 1918/19 wurde versucht, diesen Bruch mit den Eigentumsverhältnissen praktisch zu vollziehen. Der erste allgemeine Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte forderte einhellig »die Sozialisierung der großen Schlüsselindustrien und deren unmittelbare Einleitung durch die Enteignung des Bergbaus«. Hier waren sich USPD und Spartakusbund mit der großen Mehr­heit der SPD einig, auch wenn ansonsten Dissens über die zukünftige Staatsform bestand.

In heilloser Panik waren die führenden deutschen Kapita­listen zu weitreichenden Zugeständnissen an die revoltierenden Arbeiter*innen und Soldaten bereit, um ihr Eigentum zu retten. So wurden mit dem Stinnes-Legien-Abkommen eine Woche nach dem Sturz des Kaisers die Koalitionsfreiheit durchgesetzt und Tarifverträge rechtlich abgesichert. In Betrieben ab 50 Beschäftigten sollten Arbei­ter­ausschüsse (die späteren Betriebsräte) gebildet werden und der Achtstundentag bei vollem Lohnausgleich wurde beschlossen. Im Gegenzug sicherten die Gewerkschaftsführer den Schutz des Privateigentums zu.

Dies ist eine wichtige Lehre für die heutige Bewegung. Tatsächlich ist der größte Berliner Immobilienkonzern »Deutsche Wohnen« unter dem Druck der Enteignungskampagne be­reits jetzt zu Zugeständnissen an Mie­­ter*innen bereit, um sein Image aufzubessern.

Systemfrage offen gehalten

Nach dem Zweiten Weltkrieg tauchten viele Eigentümer der Großunternehmen, oftmals Förderer, noch öfter Profiteure des Faschismus, ab. Spontan entstandene Antifaschistische Komitees übernahmen vielerorts die Verwaltung von Betrieben und Gemeinden. 1946 stimmten in Hessen 72 Prozent für die Soziali­sie­rung von Bergbau, Eisen, Stahl, Energie und Verkehr. 1948 folgten 9 Millionen dem Aufruf zum Gene­ral­streik in der britischen und der US-amerikanischen Besatzungszone. Auch dabei ging es um die Sozialisierung großer Industrien. Selbst die CDU nannte sich 1946 eine »sozialistische Volkspartei« – in Westdeutschland.

Vor diesem Hintergrund wurde 1949 das Grundgesetz be­schlossen. Obwohl mit Hilfe der Besatzungsmächte be­reits weitgehend Fakten bei der marktwirtschaftlichen Gestaltung der Produktions­ver­hältnisse geschaffen worden waren, war man gezwungen, das Wirtschaftssystem scheinbar offen zu halten.

Das Grundgesetz schreibt daher bis heute keinen Kapitalismus fest, sondern bietet Anknüpfungspunkte für beide Klassen: Dem Recht auf Eigentum steht dessen Bindung an das Gemeinwohl (Art. 14) und an den Sozialstaat (Art. 20) gegenüber. Enteignungen sind »zum Wohle der Allgemeinheit« (Art. 14) und »zum Zwecke der Vergesellschaftung« (Art. 15) möglich.

Die Ökonomie der Horrormieten

Nach einem Bericht der Bundesbank sind die Immobilienpreise in den sieben größten deutschen Städten von 2010 bis 2018 um 80 Prozent gestiegen. Die sozialdemokratische Antwort darauf (bezahlbare Mieten durch mehr Neubau) übersieht, dass das Problem »nicht allein auf Knappheit zurückzuführen (ist), sondern auf Spekulation mit dem Wohnraummangel«, so der Historiker Ralf Hoff­rogge (Berliner Zeitung, 23.01.2019).

Seit der weltweiten Wirtschaftskrise 2007-09 drängen Kapitaleigentümer aggressiv auf den Immobilienmarkt. Zu der erwarteten Preisentwicklung hieß es 2009 bei einem Kri­sentreffen der Branche in Berlin, dem größten Mietwohnungsmarkt Europas: »Wer jetzt zu günstigen Zinsen in guter Lage eine Wohnung kauft, wird sich in zehn bis 15 Jahren beglückwünschen« (Tagesspiegel, 24.01.2009).

Der Soziologe Michael Goldman bilanzierte 2018 die Entwicklungen seit 2007: »[…] nach der Finanzkrise sind private Kapitalbeteiligungsgesellschaften […] angetreten, die größten Vermieter in den Vereinigten Staaten zu werden. Sie haben nichts anderes gemacht, als Milliarden Dollar in den darniederliegenden Häusermarkt zu investieren, der den Banken gehörte. […] Dann haben sie die Mieten erhöht. Aber damit haben sie nicht das Geld gemacht. Sondern sie haben die Geld-Rückflüsse aus den Mieten wieder verkauft – als verbriefte Anleihen. Dass die Leute mo­nat­lich ihre Miete zahlen, […] war eine lukrative und finanziell total abgesicherte Idee. […] Die US-amerikanische Investmentgesellschaft Blackstone hat (2018) einfach mal 2.500 Einheiten in Berlin und Brandenburg gekauft […]. Welche Verpflichtungen hat Blackstone gegenüber dem Gemeinwesen und gegenüber den Mietern übernommen? Kann Blackstone einfach so – mir nichts, dir nichts – wieder verkaufen? […] Meine Vermutung ist, dass sich das Wohnungswesen in Berlin sehr verändern wird.« (Tagesspiegel, 1. Juni 2018)

Die Ursache dieses Kapitalflusses liegt darin, dass die Profitraten in der Produktion nicht mehr hoch genug ausfallen. Aus die­ser Triebfeder heraus wurde auch schon zuvor die Privatisierung öffentlicher Güter forciert. Vorherige Privati­sierungen von Wohnungen ermöglichen jetzt, dass Immobilien systematisch als Kapitalanlage missbraucht werden können.

Privatisierung

Dass privates Kapital das Wohnen in Berlin derart umkrempeln konnte, geht somit auch auf die Politik des Senats von SPD und PDS zurück. 2001 trat die PDS in die Landesregierung ein. Der damalige Regierende Bürgermeister Wowereit (SPD) gab die Parole »Sparen bis es quietscht« aus – und die PDS zog mit. 2007 fusionierte die PDS mit der WASG zur LINKEN. Doch diese Politik wurde bis 2011 fortgesetzt. 2004 wurde unter Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) die Wohnungsbaugesellschaft GSW mit über 65.000 Wohnungen für 405 Millionen Euro privatisiert.

Während der heutige Regierende Bürgermeister Müller die Privatisierung damals als SPD-Fraktions- und Landeschef unterstützte, hält er sie nun für einen Fehler und überlegt, die Wohnungen zurückzukaufen. Eigentümerin ist heute die »Deutsche Wohnen«, die für den GSW-Bestand einen Markt­wert von nun sieben Milliarden Euro angibt. Diese angebliche Wertsteigerung um mehr als das 17-fache hat der Konzern durch seine Mietenpolitik selber vorangetrieben.

Die LINKE trägt seit 2016 erneut Regierungsverantwortung, zusammen mit SPD und Grünen. Aus Fehlern habe man gelernt. Die heute besseren finanziellen Rahmenbedingungen sollen auch eine sozialere Politik ermöglichen. Dabei wäre die Partei mit Katrin Lompscher als Senatorin für Stadtentwicklung und Wohnen an zentraler Stelle positioniert, um sich der Bewegung gegen die Mietenexplosion als parlamentarischer Arm anzubieten. Wir haben darüber mit den Aktiven Sarah Nagel und Kalle Kunkel gesprochen (die Interviews sind in der zweiten Ausgabe des Magazins „Lernen im Kampf“ erhältlich).

»Radikalisierung«

Als sich der Landespartei­tag der LINKEN im Dezember 2018 hinter die Enteignungsforderung der Bewegung stellte, kommentierte die Sprecherin der LINKEN für Stadtentwicklung Katalin Gennburg anerkennend, die Partei radikalisiere sich »aus der Regierung heraus« (taz, 14. Dezember 2018). Es gibt im Berliner Landesverband eine starke Stimmung dafür, zusammen mit der Bewegung die Regierungspo­litik nach links zu drücken und sich Kapitalinteressen entgegenzustellen.

Die Möglichkeiten des Grundgesetzes, die einer noch offe­ne­ren Haltung zur Systemfrage entspringen, sollten dabei ausgeschöpft werden. Ist Artikel 15 nur ein Relikt vergangener gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse oder lässt er sich heute nutzen, um Interessen von Mie­ter*innen durchzusetzen?

Wenn Die LINKE ihre Politik konsequent im Interesse der breiten Bevölkerungsmehrheit weiterentwickelt, dann darf be­zweifelt werden, dass diese Regierung noch lange hält. Denn dann werden sich immer mehr Bruchstellen zu SPD und Grünen ergeben, die verlässlich garan­tieren wollen, dass das Profitsystem weiterhin funktioniert.

Aber Die LINKE braucht ein Scheitern der Koalition an der Mietenfrage nicht zu fürchten. Denn sie kann dann umso deutlicher machen, wer für welche Interessen steht. Als Oppositionspartei, die eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen von Fall zu Fall unterstützt (oder eben auch nicht), wäre sie dann in einer besseren Position und könnte darauf setzen, bei den nächsten Wahlen um eine Mehrheit für sozialistische Politik zu kämpfen.

Christoph Wälz ist Mitglied der ­LINKEN in Berlin-Neukölln. In der GEW Berlin hat er sich für eine Unterstützung der Enteignungs­kampagne durch die Gewerkschaft eingesetzt.

Quellenangaben und Lesetipps zum Thema