Die Linke und die Macht, Internationales, Kommentar, Linksammlung

Die Gelbwesten „lernen im Kampf“ – Kommentar und Artikelschau

Zu Beginn der Bewegung der „gilets jaunes“ – der Gelbwesten – und auch später noch nahmen Teile der französischen Linken eine sehr zögerliche, abwartende Haltung ein. Auch in der deutschen Linken waren und sind skeptische Stimmen zu hören. Dies sei ein egoistischer Protest von Autofahrer*innen, es fehle das Potential zu einer solidarischen Bewegung, die Proteste seien von Rechten unterwandert. Zwar steckt in jedem dieser Punkte ein Körnchen Wahrheit, doch werden diese Teilwahrheiten der Bewegung nicht gerecht. Wir möchten hier noch einmal festhalten – die Arbeiterklasse lernt im Kampf. Das heißt, sie tritt auch in den Kampf mit all ihren Ressentiments, mit all ihren Schwächen, denn sie ist ja Teil des unsolidarischen kapitalistischen Systems.

von Richard Ulrich, Frankfurt am Main

Aber nur in konkreten Auseinandersetzungen wiederum können Ressentiments überwunden werden. Aufgabe von Marxist*innen ist es daher aus unserer Sicht, reale Kämpfe der Arbeiterklasse anzuerkennen, zu unterstützen, Wege vorzuschlagen, wie diese Kämpfe siegreich geführt werden können und darüber in einen Dialog zu treten. Wenn sich die Linke aus solchen Bewegungen heraushält, überlässt sie rechten Demagog*innen das Feld. Statt auf eine „reine“ Bewegung zu warten, die den idealistischen, romantisierten Vorstellungen entspricht, die einige Linke von Klassenkampf haben, muss man doch im Hier und Jetzt dabei sein – und nicht vom Spielfeldrand aus herumnörgeln. Gerade die Gelbwesten sind ein Beispiel dafür, wie sich in kurzer Zeit der Charakter einer Bewegung verändern kann, welche Eigendynamik solch ein spontanes Aufbegehren annehmen kann: In den vergangenen Tagen haben sich Schüler*innen, Studierende, Amazon-Arbeiter*innen, Pflegekräfte, Eisenbahner*innen und viele andere zu Gelbwesten erklärt…

Es sei auf ein paar lesenswerte Artikel und Websites hingewiesen:

Aktuelle Informationen zu den Massenprotesten gibt es (auf Französisch) auf dem sozialistischen Blog Arguments pour la lutte sociale und (auf Deutsch) auf der Facebook-Seite von Sebastian Chwala.

Labournet TV: Arbeiter_innen und gelbe Westen blockieren Amazon

Édouard Louis: Wer sie beleidigt, beleidigt meinen Vater, DIE ZEIT, 05.12.2018.

Lorenz Gösta Beutin: Klassenkampf ist keine Perwoll-Werbung, neues deutschland, 06.12.2018.

Lower Class Magazine: Der Aufstand der Gelbwesten, 07.12.2018. (Der Artikel kritisiert die fehlende Solidarisierung der Linken.)

Violetta Bock: Durchkreuzen der Scheinfront, neues deutschland, 08.12.2018.

John Mullen: Yellow Vests: Act Four: Where is France Going? The Left Berlin, 09.12.2018.

Nelli Tügel: Jetzt erst recht, neues deutschland, 09.12.2018.

Auch ein Blick in „Das Elend der Philosophie“ (1847) von Karl Marx mag helfen:

„Wie die Ökonomen die wissenschaftlichen Vertreter der Bourgeoisklasse sind, so sind die Sozialisten und Kommunisten die Theoretiker der Klasse des Proletariats. Solange das Proletariat noch nicht genügend entwickelt ist, um sich als Klasse zu konstituieren, und daher der Kampf des Proletariats mit der Bourgeoisie noch keinen politischen Charakter trägt […] solange sind diese Theoretiker nur Utopisten, die, um den Bedürfnissen der unterdrückten Klassen abzuhelfen, Systeme ausdenken und nach einer regenerierenden Wissenschaft suchen. Aber in dem Maße, wie die Geschichte vorschreitet und mit ihr der Kampf des Proletariats sich deutlicher abzeichnet, haben sie nicht mehr nötig, die Wissenschaft in ihrem Kopfe zu suchen; sie haben nur sich Rechenschaft abzulegen von dem, was sich vor ihren Augen abspielt, und sich zum Organ desselben zu machen. Solange sie die Wissenschaft suchen und nur Systeme machen, solange sie im Beginn des Kampfes sind, sehen sie im Elend nur das Elend, ohne die revolutionäre umstürzende Seite darin zu erblicken, welche die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird. Von diesem Augenblick an wird die Wissenschaft bewußtes Erzeugnis der historischen Bewegung, und sie hat aufgehört, doktrinär zu sein, sie ist revolutionär geworden.“