Zur Debatte auf der Linken um Zero Covid und eine Strategie im Kampf gegen das Virus und den kapitalistischen Staat
Ein Interview mit Paul Murphy
Paul Murphy ist Abgeordneter im Irischen Parlament. Er gehört der ökosozialistischen Partei People Before Profit an und unterstützt darin das marxistische Netzwerk RISE (Revolutionary Internationalist Socialist Environmentalists).
Links:
Website der Initiative Zero Covid: zero-covid.org
Die zitierten Artikel von SAV und SOL finden sich hier:
– SAV: »#ZeroCovid-Aufruf löst Dynamik von links aus«
– SOL: »#ZeroCovid – Eine solidarische Kritik«
Als revolutionär-sozialistischer Aktivist hast Du Dich innerhalb und außerhalb des irischen Parlaments dafür eingesetzt, die Masse der Bevölkerung vor den Auswirkungen der Covid-19-Krise zu schützen. Die Website Deiner Organisation RISE und Deiner Partei People Before Profit bieten hervorragendes Material, zum Beispiel für eine Zero-Covid-Strategie. Du hast kürzlich einen Artikel über die Diskussion innerhalb der revolutionären Linken dazu geschrieben. Kannst Du uns erklären, worum es in dieser Diskussion geht?
Lass mich mit einigen Beiträgen von Genossinnen aus Deutschland beginnen. Zunächst gab es den Aufruf von Aktivistinnen wie Winfried Wolf für eine Zero-Covid-Strategie. Dann, finde ich, hat sich eine interessante Diskussion darüber entwickelt, in der sowohl die Sozialistische Alternative (ISA), als auch die Organisation Solidarität (CWI) mit Stellungnahmen darauf reagiert haben.
Als Vertreter des CWI äußert Sascha Staničić seine Skepsis darüber, dass Zero Covid vor einer massenhaften Impfung zu erreichen ist. Er argumentiert dann, »dass die Linke in der gegenwärtigen Situation konkrete Forderungen in den Mittelpunkt stellen sollte, die zum einen ein wirksames Zurückdrängen des Virus einschließlich der Wiederherstellung der Nach-vollziehbarkeit der Infektionsketten zum Ziel haben sollte und andererseits die sozialen und ökonomischen Interessen der Arbeiterinnenklasse und sozial Benachteiligten in den Mittelpunkt rücken.«
Claus Ludwig von der ISA nimmt eine wohlwollendere Haltung gegenüber dem Appell ein, argumentiert jedoch: »Im Rahmen der Diskussion sind in den letzten Monaten passendere Slogans als ›#ZeroCovid‹ entstanden. Die SAV fordert seit dem Herbst ›Lockdown capitalism‹. In Köln hat ein antifaschistisches Bündnis unter dem Motto ›Corona bekämpfen. Menschen schützen, nicht den Kapitalismus‹ zu einer Demonstration aufgerufen.«
Ich schätze Saschas und Claus’ Beiträge zum Aufbau der Kräfte des Marxismus. Im Gegensatz zu ihrer Argumentation in diesem konkreten Fall, kann ich jedoch sagen, dass ich sicher bin, dass RISE in Deutschland diesen Appell unterstützt und unterschrieben hätte und gleichzeitig gefordert hätte, ihn mit sozialistischen Maßnahmen zu begleiten – von denen SAV und SOL viele sehr richtig beschreiben. Selbst von außerhalb Deutschlands haben wir einen Artikel geschrieben, der auch in der deutschen Kampagnezeitung für Zero Covid abgedruckt wurde (tinyurl.com/ZeroCovidZeitung).
Lass uns direkt in diese Debatte einsteigen. Ich glaube, das Argument ist, dass Eure Forderungen im Namen des Kampfes gegen Covid-19 dem kapitalistischen Staat erlauben, mehr repressive Maßnahmen zu ergreifen, Ihr dem kapitalistischen Staat also in die Hände spielt.
Dies ist Teil der Debatte. Schauen wir es uns konkret an. Die Socialist Party in Irland, die Schwesterorganisation der SAV, sprach sich entschieden gegen eine entscheidende Komponente der Zero-Covid-Strategie aus, die obligatorische Hotelquarantäne (Mandatory Hotel Quarantine – MHQ). Dies ist für eine Zero-Covid-Strategie von entscheidender Bedeutung, da sie darauf abzielt, dass nicht neue Varianten und neue Ansteckungen ins Land gelassen werden. MHQ findet eine breite Unterstützung, gerade weil die Menschen verstehen, dass ihre Bemühungen um Social Distancing und Lockdowns unnütz sind, wenn das Virus von Menschen, die ins Land einreisen, neu verbreitet wird.
RISE, People Before Profit und die Socialist Party stimmten alle gegen die MHQ-Gesetzgebung der Regierung. Wir taten dies jedoch aus sehr unterschiedlichen Gründen: RISE lehnte es als politisches Theater der Regierung ab, die unter dem Druck der Öffentlichkeit stand, MHQ einzuführen, aber nicht bereit war, etwas zu tun, das die Beziehungen zu mächtigen Ländern wie den USA oder Deutschland hätte beeinträchtigen können. Dadurch wurde dieses Theaters rassistisch, weil die betroffenen Länder dann überwiegend in Afrika oder Lateinamerika liegen. Wir argumentierten, dass dies auch unwirksam ist. Wir lehnten auch das Outsourcing der Quarantäneeinrichtungen an private Betreiber ab. Wir forderten die Aufsicht von Menschenrechtsgruppen, Bürgerrechtsgruppen und Gewerkschafterinnen, um
sicherzustellen, dass keine Befugnisse missbraucht werden.
Im Gegensatz dazu lehnte die Socialist Party die Einführung jeglicher obligatorischer Quarantäne ab, außer zu Hause. Im irischen Parlament beschrieb ihr Abgeordneter Mick Barry MHQ als »eine Form der Inhaftierung ohne Gerichtsverfahren«.
In einem Artikel von Finghín Kelly argumentieren sie: »Ein Großteil der Medien, viele Oppositionsparteien und sogar einige Linke haben sogar argumentiert, dass alle im Land ankommenden Menschen gezwungen werden sollten, sich in staatlich bereitgestellten Einrichtungen unter Quarantäne zu stellen, die polizeilich überwacht und kontrolliert werden…. Es wäre dumm, dem kapitalistischen Staat eine solche Macht anzuvertrauen oder ihm zu vertrauen, ein solches System in angemessener Weise zu implementieren, das die Rechte und das Wohlergehen der Menschen respektiert.«
Was ist daran falsch?
Dies ist ein sehr guter Ausgangspunkt, da der kapitalistische Staat unweigerlich seine repressiven Möglichkeiten gegen Arbeiterinnen und die sozialistische Bewegung einsetzen wird. Aber das erschöpft die Frage leider nicht.
In Wahrheit ist es, wie die Socialist Party in der Praxis anerkennt, komplizierter. Die Gefahren zusätzlicher repressiver Möglichkeiten für den Staat müssen gegen die Gefahren abgewogen werden, unterdrückte oder schutzbedürftige Gruppen oder im Fall von MHQ die gesamte Bevölkerung nicht zu schützen.
Ein gutes Beispiel hierfür war das 2019 von der Socialist Party vorgeschlagene »No Contact Order«-Gesetz, das sexuellen Missbrauchsopfern helfen soll, indem es ihnen ermöglicht, Kontaktsperren gegen Täter zu erwirken. Ein Verstoß kann mit Freiheitsstrafe von bis zu 12 Monaten geahndet werden. Das ist ebenfalls eine Ausweitung staatlicher Repressionsmaßnahmen – aber eine, die ich befürworte.
In demselben Artikel und in denselben Reden, die sich gegen MHQ aussprechen, fordert die Socialist Party ein Verbot aller nicht unbedingt erforderlichen Reisen. Aber wer wird das durchsetzen? Wer entscheidet, was wichtig ist und was nicht? Vermutlich ein kapitalistischer Staat mit verstärkter Repressionskraft. Angesichts der wegen der Macht der Pharmakonzerne in weiten Teilen der Welt langsamen Impfkampagne, wäre ein Verbot »nicht-notwendiger Reisen« in der Praxis ein erweitertes Reiseverbot für Menschen aus Afrika, Lateinamerika und Asien.
Wir sind uns einig, dass es gefährlich ist, dem Staat mehr repressive Befugnisse zu geben, insbesondere in Bezug auf die Überwachung von Corona-Beschränkungen. RISE hat sich wiederholt gegen jede Einschränkung des Versammlungs- und Demonstrationsrechts ausgesprochen. Es ist richtig, konsequent vor der Natur des kapitalistischen Staates zu warnen und Illusionen zu überwinden, er würde im Interesse der Mehrheit handeln. Das muss jedoch mit einer konkreten Analyse verbunden werden. Im Falle der Pandemie ist die Quarantäne »zu Hause«,in Wahrheit erheblich weniger effektiv, als die Quarantäne in einer bestimmten Einrichtung. Ein Hauptgrund für die Wirksamkeit der Hotelquarantäne ist, dass diese vom Personal effektiv unterstützt werden kann. Alle Lebensmittel, Getränke und sonstigen Bedürfnisse werden zu der Person gebracht, so dass die Notwendigkeiten, das Haus zu verlassen, entfallen. Dasselbe kann zu Hause nicht garantiert werden, wo möglicherweise andere Menschen leben, die mit der unter Quarantäne stehenden Person interagieren müssten.
Könnte man argumentieren, dass Ihr angesichts von Covid-19 für eine Art Burgfrieden mit der herrschenden Klasse eintretet?
Nein, aber bei der Überlegung, wie wir als Marxistinnen mit Covid-19 umgehen sollen, war die Analogie mit einem Krieg für uns in RISE nützlich. In konzeptioneller Hinsicht hat der »Krieg« gegen Covid einige Ähnlichkeiten mit einem nationalen Befreiungskrieg. Dies ist nicht dasselbe wie ein inter-imperialistischer Krieg, bei dem wir uns einfach allen Kriegszielen der Regierung widersetzen. Sowohl die herrschende Klasse als auch die Arbeiterklasse teilen ein gemeinsames Interesse im Kampf gegen Covid-19, aber wir sitzen nicht alle im selben Boot. Der »Krieg gegen Covid« wird durch den kapitalistischen Charakter der Gesellschaft stark behindert – die kurzfristigen Gewinninteressen der Unternehmen standen wiederholt im Wege, das zu tun, was die Wissenschaft verlangt hätte.
Daher sollten sich Sozialistinnen als die besten Kämpferinnen gegen Covid positionieren und zeigen, wie die Klasseninteressen der Kapitalistenklasse und ihrer Regierung einem wirksamen Kampf gegen Covid im Weg stehen.
Wir haben die Notwendigkeit einer Zero-Covid-Politik konsequent mit Forderungen verknüpft, die über die Logik des Kapitalismus hinausgehen – zum Beispiel die Re-Verstaatlichung privater Krankenhäuser und die Einrichtung von Arbeiterkomitees zur Kontrolle dessen, was sich an den Arbeitsplätzen abspielt. Wir, People Before Profit, haben die Idee eines »Volksimpfstoffs« in den Mittelpunkt gerückt, und gefordert, dass die Rechte an geistigem Eigentum an pharmazeutischen Produkten abgeschafft werden und die Pharmaindustrie verstaatlicht wird, damit ein Impfstoff öffentlich hergestellt und vertrieben werden kann – schnell und überall auf der Welt.
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