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Betrieb und Gewerkschaft: Korporativ in die Krise

Metallerinnen zeigen, dass sie auch in der Krise kämpfen können. Gewerkschaftsspitze akzeptiert dennoch Reallohnverlust und weitere Flexibilisierung.

von Daniel Behruzi, Darmstadt

Die Aktionen während der Tarifauseinandersetzung in der Metall- und Elektroindustrie waren zum Teil beeindruckend kämpferisch. Insgesamt über eine Million Metallerinnen beteiligten sich an Warnstreiks und Protesten. Und auch die »digitalen Warnstreiks« von Angestellten im Homeoffice haben erstaunlich gut funktioniert: Allein in Baden-Württemberg waren laut IG Metall am 12. März fast 19.000 Endgeräte eingeloggt. Wie zuvor ihre Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst haben die Beschäftigten der Metallindustrie gezeigt, dass sie auch in Zeiten der Pandemie und unter schwierigen Rahmenbedingungen kämpfen können. Vor diesem Hintergrund ist die von der Gewerkschaftsspitze ausgehandelte Einigung doppelt bitter. Sie bedeutet für die rund 3,8 Millionen Beschäftigten in Deutschlands wichtigster Industrie Reallohneinbußen und weitere Verschlechterungen.

Sicher: Die Ausgangslage war alles andere als einfach. In etlichen Betrieben werden Stellen abgebaut, Standorte stehen auf der Kippe. Das hat keineswegs nur mit der Corona-Pandemie zu tun. Vielmehr nutzen Konzerne diese auch als Vorwand, um Produktion ins billigere Ausland zu verlagern. Die Tarifrunde wäre eine Gelegenheit gewesen, diese betrieblichen Konflikte mit Verteilungsfragen zu verbinden. Ansatzweise ist das geschehen, zum Beispiel beim Autozulieferer Mahle, wo 2.000 Jobs vernichtet werden sollen. Doch es blieb bei Ansätzen. Mit »Power-Streiks« – ganztägigen Arbeitsniederlegungen, die in der Tarifrunde 2018 für Furore gesorgt hatten – hätte die IG Metall den ökonomischen Druck deutlich steigern können. Denn trotz Pandemie brummt die Industrie in weiten Teilen. Manche Betriebsräte haben mitten im Tarifkonflikt Überstunden und Sonderschichten genehmigt. Schon das zeigt, dass die Gewerkschaftsspitze ihre kämpferische Rhetorik selbst nicht allzu ernst genommen hat.

Eine Eskalation wollte sie unbedingt vermeiden. Das dürfte in den pandemischen und wirtschaftlichen Unwägbarkeiten begründet sein, aber auch in der generellen Haltung der IG-Metall-Spitze, die in Krisenzeiten stets auf Korporatismus und »gemeinsam durch die Krise« schaltet. Das materielle Ergebnis ist entsprechend dürftig. Davon, dass mit ihm »die Krisenfolgen fair verteilt« würden, wie IG-Metall-Chef Jörg Hofmann behauptet, kann keine Rede sein. Die Metallerinnen und Metaller erhalten demnach auch 2021 keine dauerhaft wirksame Lohnerhöhung, sondern lediglich eine einmalige »Corona-Beihilfe« von 500 Euro, für Auszubildende gibt es 300 Euro. Das ist umso schmerzlicher als die IG Metall unter dem Eindruck der Corona-Pandemie bereits für das vergangene Jahr einen Tarifvertrag mit kurzer Laufzeit und ohne tabellenwirksame Lohnerhöhung geschlossen hatte. Angesichts sprudelnder Gewinne und Dividendenausschüttungen in weiten Teilen der Branche ist diese Reallohnkürzung nicht zu rechtfertigen.

2022 gibt es eine Sonderzahlung in Höhe von 18,4 Prozent eines Monatsentgelts, die ein Jahr später auf 27,6 Prozent steigt und künftig jährlich gezahlt wird. Laut IG Metall entspricht sie einer Entgeltsteigerung von 2,3 Prozent. Diese Sonderzahlung ist dynamisch, wird also bei künftigen Tariferhöhungen berücksichtigt. Daher erscheint es zunächst nebensächlich, dass die 2,3 Prozent nicht einfach auf das Tabellenentgelt draufgeschlagen werden. Ist es aber nicht. Denn zum einen soll dieser Betrag als »Transformationsgeld« zum Teillohnausgleich bei verkürzten Arbeitszeiten verwendet werden können. Zum anderen fließt er nicht in die Berechnung der Zuschläge ein. Damit stagnieren die Zuschläge für 2020, 2021 und den Großteil des Jahres 2022 – was gerade für Schichtarbeiter erhebliche Einbußen bedeutet.

Nicht nur in Krisensituationen, sondern auch zur Bewältigung der »Transformation« – gemeint ist zum Beispiel der Umbau der Automobilindustrie hin zu elektrischen Antrieben – kann die Arbeitszeit für ganze Belegschaften oder einzelne Bereiche auf bis zu 28 Stunden pro Woche verkürzt werden. Die Lohnverluste können mit dem »Transformationsgeld« teilweise ausgeglichen werden. Das geht sowohl individuell – der einzelne Beschäftigte finanziert die Aufstockung seines Monatslohns durch den Verzicht auf seine Sonderzahlung – als auch kollektiv: In diesem Fall bezahlt die gesamte Belegschaft die Aufstockung eines Teils der Beschäftigten, deren Arbeitszeit verkürzt wird. So oder so: Es sind die Beschäftigen selbst, nicht das Unternehmen, die die kürzeren Arbeitszeiten finanzieren, um ihre Jobs zu sichern. Ob diese Option zum Tragen kommt, entscheiden die Betriebsparteien.

Erstmals erhalten Unternehmen die Möglichkeit, Tarifbestandteile bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten einseitig zu streichen. Das betrifft einen Teil des 2018 vereinbarten »Tariflichen Zusatzentgelts« in Höhe von knapp 400 Euro. Dieses wird im Oktober 2021 fällig und kann gestrichen werden, wenn die Nettoumsatzrendite weniger als 2,3 Prozent beträgt. Das ist ein Tabubruch, der zunächst auf das laufende Jahr beschränkt ist. »Wenn wir sehen, dass da zu willkürlich gehandelt wird, ziehen wir Konsequenzen«, erklärte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann. Ausgeschlossen ist eine Verlängerung dieses Deals also offenbar nicht. Die Verbindlichkeit der Tarifregelungen wird damit weiter untergraben.

Gute Stimmung während des Warnstreiks im Daimler Werk Stuttgart-Untertürkheim, hier an einem Drehtor in Mettingen. Bayern und Baden-Württemberg hatten die mit Abstand die meisten Warnstreikenden. Der Pilotabschluss erfolgte in Nordrhein-Westfalen.

Weitere Zugeständnisse in Baden-Württemberg

Obwohl jeder dritte Warnstreikende aus Baden-Württemberg kam, hat die IG Metall hier noch weitere Zugeständnisse gemacht. Das besonders konfrontative Auftreten des Unternehmerverbands Südwestmetall unter seinem Vorsitzenden, dem Daimler-Personalvorstand Wilfried Porth, hat sich also ausgezahlt. So kann das Weihnachtsgeld, das je nach Region 55 oder 60 Prozent eines Monatslohns ausmacht, halbiert werden, wenn zugleich betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen sind. Theoretisch kann es auch verdoppelt werden – was aber wohl nirgendwo geschehen dürfte. Zwar müssen die Betriebsräte der Kürzung des Weihnachtsgeldes zustimmen. Zum Beispiel wenn es um Standort- und Investitionsentscheidungen geht sind sie jedoch leicht erpressbar.

Zudem wird die Arbeitszeit im Südwesten weiter flexibilisiert. »Künftig soll es einen Korridor für die durchschnittliche Arbeitszeit im Betrieb geben, innerhalb dessen die individuelle Arbeitszeit mit den Beschäftigten flexibler vereinbart werden kann«, heißt es in einer Mitteilung von Südwestmetall. Bisher galt für das Gros der Belegschaften die 35-Stunden-Woche, für bis zu 18 Prozent der Beschäftigten eines Betriebs konnten 40 Wochenstunden vereinbart werden. Bereits 2018 war diese Regelung auf Betreiben der Unternehmer aufgeweicht worden. Jetzt wird sie zugunsten des Korridormodells aufgegeben.

Teil der Vereinbarung in Baden-Württemberg ist auch eine Verpflichtung, Gespräche über die »Vereinheitlichung, Modernisierung und Vereinfachung« der Tarifverträge zu führen. Dahinter versteckt sich das Bestreben der Unternehmen, »die tariflichen Sonderleistungen« infrage zu stellen, die die Beschäftigten im Südwesten besserstellen als im Rest der Republik. Dazu gehört unter anderem die sogenannte Steinkühler-Pause. Die 1973 erkämpfte Regelung, dass Bandarbeiterinnen fünf Minuten pro Stunde eine zusätzliche Erholungspause haben, gilt den Konzernen schon lange als »baden-württembergische Krankheit«. Darüber soll nun ebenso gesprochen werden wie über die betriebliche Alterssicherung. Lieber hätte Südwestmetall auch in diesen Punkten unmittelbare Kürzungen durchgesetzt. »Diesen Angriff haben wir erfolgreich abgewehrt«, freute sich der IG-Metall-Bezirksleiter Roman Zitzelsberger. Immerhin das.

Zu Redaktionsschluss ist die Auseinandersetzung in allen Tarifgebieten beendet – außer in Berlin, Brandenburg und Sachsen, wo die Unternehmen auch mehr als 30 Jahre nach der staatlichen Einheit die Angleichung der Arbeitszeiten auf die im Westen geltende 35-Stunden-Woche blockieren. Die unbezahlte Mehrarbeit bedeutet, dass die Stundenlöhne im Osten umgerechnet 8,5 Prozent niedriger sind als in Westdeutschland. Die Warnstreiks sollen dort deshalb fortgesetzt werden. Damit die IG Metall die längst überfällige Angleichung nicht nur in wenigen Großbetrieben, sondern flächendeckend durchsetzt, sind mehr als nur symbolische Solidaritätsaktionen in den westdeutschen Betrieben nötig.