Zu den Grundwidersprüchen des Kapitalismus gehören der Widerspruch zwischen vergesellschafteter Produktion und privater Aneignung sowie derjenige zwischen internationaler Arbeitsteilung und nationalstaatlicher Verfasstheit. Beides wird in der Auseinandersetzung um die Freigabe von Patenten und Know-how für Impfstoffe gegen Covid-19 deutlich.
von Daniel Behruzi
Daniel Behruzi lebt als freier Journalist in Darmstadt.
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Glaubt man der neoliberalen, von Unternehmerverbänden finanzierten »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft« (INSM), ist die rasche Entwicklung von Impfstoffen gegen Covid-19 durch das deutsche Pharmaunternehmen BioNTech eine dem »Freiheit und Wettbewerb« geschuldete Erfolgsstory der »Sozialen Marktwirtschaft«. Das ist in etwa das Gegenteil der Realität. Vielmehr wären die Impfstoffe zur Eindämmung der Pandemie ohne öffentliche Forschung und massive staatliche Subventionen undenkbar. Ihre Entwicklung war kein privater, sondern ein zutiefst gesellschaftlicher Prozess. Dennoch wollen wenige Kapitalbesitzer hohe Profite daraus ziehen.
So basiert die mRNA-Technologie, die zum Beispiel beim Impfstoff von BioNTech zur Anwendung kommt, auf der Grundlagenforschung in öffentlichen Universitäten der vergangenen 25 Jahre. Hinzu kommt die direkte Subventionierung: Allein Deutschland hat den drei Firmen BioNTech, IDT Biologika und Curevac 750 Millionen Euro Steuergelder für die Entwicklung von Impfstoffen zur Verfügung gestellt – und das ohne Bedingungen in Bezug auf Preise und Verfügbarkeit oder gar Patente. Der Impfstoff von AstraZeneca wurde fast vollständig aus öffentlicher Hand finanziert, bei dem von Moderna hat die staatliche Unterstützung ebenfalls eine entscheidende Rolle gespielt.
Es ist also nicht nur gesellschaftliche Produktion, sondern auch gesellschaftlich finanzierte Entwicklung, die im Kampf gegen die Pandemie Hoffnung gibt. Dennoch soll mit den Präparaten privater Mehrwert erzielt werden. Deutsch-land und andere Staaten, die Unternehmen mit den lukrativen Patenten beheimaten, verhalten sich hier als Interessenvertreter »ihrer« Bourgeoisie. Die EU, die USA, Japan und Großbritannien haben in der Welthandelsorganisation (WTO) einen Antrag von Indien und Südafrika blockiert, Covid-19-Technologien zumindest für die Zeit der Pandemie von den WTO-Patentregeln auszunehmen. Die USA haben unter Joe Biden eine Kehrtwende vollzogen und plädieren nun für die vorübergehender Freigabe einiger Patente. Anders als die Bundesregierung bisher, zeigt sich die neue US-Administration damit als »ideeller Gesamtkapitalist«, als die Marx und Engels den bürgerlichen Staat einst charakterisierten. Denn obwohl das Aussetzen von Patenten einen aus ihrer Sicht gefährlichen Präzedenzfall schaffen könnte, ist der Gesamtbourgeoisie wohl eher an einer raschen Überwindung der Pandemie gelegen als an einer Garantie hoher Profitraten für einzelne Pharmafirmen. Den arbeitenden Klassen aller Länder sowieso.
Die Entwicklung der Impfstoffe war kein privater, sondern ein zutiefst gesellschaftlicher Prozess.
Und für die Bekämpfung der Pandemie wäre es unbedingt sinnvoll, die Kapazitäten der Impfstoffproduktion so schnell wie möglich auszuweiten. Die Behauptung zum Beispiel des Bundesjustizministeriums, es gebe »keine Belege dafür, dass gerade der Schutz geistiger Eigentumsrechte eine angemessene Versorgung mit Produkten behindert«, ist nicht stichhaltig. Wie das ehemalige Novartis-Werk bei Marburg könnten innerhalb einiger Monate weltweit viele Produktionsstätten für die Impfstoffherstellung umgebaut werden. Nötig dafür wären neben der Freigabe der Patente auch der Transfer von Technologien und Know-how.
Die Widerstände dagegen zeigen: Im Kapitalismus geht es zuvorderst um die Akkumulation von Kapital, Menschenleben sind da zweitrangig.