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Marxistische Theorie – Poulantzas: Der Staat und der »demokratische Weg zum Sozialismus«

Zur Wiederbelebung der Ideen von Nicos Poulantzas in der deutschen und US-amerikanischen Linken

Dieser Artikel erschien in Lernen im Kampf Nr. 6. Unterstütze uns und abonniere unser Magazin.

von Stephan Kimmerle, Seattle

Mit einer dreiteiligen Folge (»Mit Poulantzas kämpfen«) führte Thomas Goes in der SoZ, Sozialistische Zeitung, in die Ideen von Nicos Poulantzas ein. Auch in der neuen sozialistischen Bewegung in den USA spielt  Poulantzas eine Rolle. Grund genug, uns mit den Ideen dieses in der Tradition des Eurokommunismus stehenden Denkers zu beschäftigen. 

Zentral geht es bei Poulantzas um den Staat: Welche Rolle spielt der kapitalistische Staat und wie sollen Sozialist*innen damit umgehen, die den Kapitalismus überwinden wollen? In einem auf der Linken in den USA breit diskutierten Buch, »The Socialist Challenge Today« von Sam Gindin und Leo Panitch, wenden die Autoren Poulantzas Ideen aus den 1970er Jahren auf die heutige Situation an. Diesen Ansatz teilen die Autoren mit den Herausgebern des international bekannten Magazins Jacobin und der mit dem Magazin verbundenen »Bread and Roses«-Strömung in den Democratic Socialists of America (DSA).

Sam Gindin und Leo Panitch betrachten in ihrem Buch die Entwicklungen unter Syriza, Corbyn und Sanders. Ihre Methoden basieren auf der Theorie des »demokratischen Wegs zum Sozialismus«, wie sie unter anderem Nicos Poulantzas formuliert hat. Wenn dabei – und in diesem Artikel hier – auf Poulantzas Bezug genommen wird, so geht es um die Ideen, die er in seinen späteren Werken vorgebracht hat, zum Beispiel in State, Power, Socialism, das auch den Artikel »Toward a Democratic Socialism« beinhaltet, der unabhängig von diesem Buch 1978 im New Left Review veröffentlicht wurde und Poulantzas spätere Ideen gut zusammenfasst. 

1. »Ein langer Prozess«

Ausgangspunkt der Analyse ist, dass sowohl Sozialdemokratie als auch Leninismus gescheitert und keine praktikablen Strategien seien. Die Alternative sei ein »langer Prozess« der Transformation zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der demokratische Stützpunkte der Arbeiterbewegung innerhalb des Staates aufbauen will, während der kapitalistische Staat grundlegend intakt bleibt.

Gindin und Panitch – in Übereinstimmung mit Poulantzas Theorie – suchen einen Weg jenseits des Reformismus der klassischen Sozialdemokratie, die auch schon vor ihrer neoliberalen Phase jegliche Überwindung des Kapitalismus aufgegeben hatte. Eine »aufständische« Strategie, wie die Oktoberrevolution in Russland 1917, mit dem Ziel einer »Zerschlagung des Staates« und einer »Doppelherrschaft« lehnen sie allerdings ab. Doppelherrschaft bedeutet hier die Schaffung einer alternativen Staatsmacht in Form von Arbeiterräten, um den alten kapitalistischen Staat zu ersetzen, während dieser (noch) fortbesteht. 

Poulantzas schreibt in State, Power, Socialism:

Der demokratische Weg zum Sozialismus ist ein langer Prozess, in dem der Kampf der Volksmassen nicht darauf abzielt, eine effektive Doppelherrschaft parallel und außerhalb des Staates zu schaffen, sondern sich selbst auf die internen Widersprüche des Staates richtet.

Gindin und Panitch stellen ihre und Poulantzas Ideen in The Socialist Challenge Today so dar:  

Bemerkenswerterweise ging Poulantzas zurück zu Luxemburgs Kritik an Lenin von 1918, um die Wichtigkeit davon zu betonen, dass Sozialist*innen auf liberaler Demokratie aufbauen, selbst wenn sie über jene hinausgehen, um den Raum für sich entfaltende Massenkämpfe zu schaffen, die »das Kräfteverhältnis innerhalb der Staatsapparate, selbst strategische Orte von politischem Kampf, verändern« könnten. Die ganze Idee, die Staatsmacht zu ergreifen, »entbehrt klar der strategischen Vision eines Prozesses des Übergangs zum Sozialismus – das heißt einer langen Phase während der die Massen agieren werden, um die Macht zu ergreifen und Staatsapparate zu transformieren«. In anderen Worten, die Arbeiterklasse muss, um die alte herrschende Klasse zu verdrängen, Fähigkeiten entwickeln, den Staat zu demokratisieren, die immer auf »zunehmenden Eingriffen der Volksmassen in den Staat … sicherlich durch ihre Gewerkschaften und durch politische Formen der Repräsentations, aber auch durch ihre eigenen Initiativen innerhalb des Staates selbst« beruhen müssen. Zu erwarten, dass Institutionen direkter Demokratie außerhalb des Staates in einem einzelnen revolutionären Bruch einfach den alten Staat ersetzen könnten, vermeidet tatsächlich all die schwierigen Fragen von politischer Repräsentation beim Übergang zum und unter dem Sozialismus.

Gindin, Panitch und Poulantzas werden den Ideen von Rosa Luxemburg hier keineswegs gerecht. Doch erst einmal weiter in deren Argumentation. 

Für Poulantzas ist der Aufbau von demokratischen Bastionen innerhalb des Staates nicht ein Mittel der Veränderung der Gesellschaft, sondern eine Vorbedingung ihrer Veränderung. In der Anwendung dieser Methodik schreiben Gindin und Panitch: 

Während Anführer wie Tsipras, Iglesias, Corbyn und Sanders alle über die Sozialdemokratie eines ‘Dritten Weges’ hinausweisen, ist ihre Fähigkeit, darüber hinaus zu gehen, eine andere Frage. Das hat zum Teil mit ihren persönlichen Beschränkungen zu tun, aber viel mehr noch mit den spezifischen Begrenzungen jeder ihrer politischen Parteien, einschließlich selbst der stärksten linken Strömungen in ihnen, und deren Versagen, sich adäquat auf die Herausforderung vorzubereiten, den Staat zu transformieren. Die Erfahrung der Regierung in Griechenland hebt sowohl diesen Mangel hervor als auch die Tatsache, wie schwierig es für Regierungen ist, ihre Staatsapparate aus solchen auf transnationaler Ebene heraus zu winden.

2. Ökonomische Veränderungen – in einem gewissen Rahmen

Die Idee eines »langen Prozesses« bezieht sich nicht nur auf die staatliche Ebene sondern auch auf eine ökonomische Restrukturierung, um einen harmonischeren Übergang zum Sozialismus zu ermöglichen und einen ökonomischen Kollaps sowie Provokationen gegenüber den Kapitalisten zu vermeiden.    

Poulantzas schreibt in State, Power, Socialism: 

Der demokratische Weg zum Sozialismus bezieht sich auf einen langen Weg, dessen erste Phase eine Herausforderung der Vorherrschaft des Monopolkapitals beinhaltet, aber keine überstürzte Zerrüttung des Kerns der Produktionsbeziehungen. Ein Infragestellen der Vorherrschaft der Monopole setzt schon entscheidende Veränderungen des ökonomischen Apparats als Ganzes voraus. Aber während dieser Phase können Veränderungen nicht über bestimmte Grenzen hinaus gehen, ohne einen ökonomischen Zusammenbruch zu riskieren. Über die Brüche und jenseits der Brüche der anti-monopolistischen Phase wird der Staat sicherstellen müssen, dass die Wirtschaft funktioniert – eine Wirtschaft, die zu einem gewissen Grad und für eine lange Zeit kapitalistisch bleiben wird. 

Die Herausforderung für demokratische Sozialist*innen an der Macht ist daher – so Poulantzas –, auf einem schmalen Grad zu wandeln: Auf der einen Seite droht der ökonomische Widerstand des Kapitals mit Kapitalflucht und Sabotage, auf der anderen Seite droht Selbstsabotage, sollten die Sozialist*innen zu weit gehen:

Obwohl die Transformation des ökonomischen Staatsapparats nötig erscheint, um solche Sabotage zu verhindern oder zu beantworten, sollte es doch augenscheinlich sein, dass man auf einem schmalen Grat wandert. Zu keinem Zeitpunkt sollten Veränderungen zu einer tatsächlichen Demontage des wirtschaftlichen Apparats führen: Solch eine Entwicklung würde ihn paralysieren und demgemäß die Chancen auf einen Boykott durch einen Teil der Bourgeoisie erhöhen.

Panitch und Gindin wenden dies nun auf die Syriza-Regierung an und beziehen sich positiv auf Costas Douzinas. In The Socialist Challenge Today führen sie aus: 

Costas Douzinas, ein weiterer prominenter griechischer, in London ansässiger Intellektueller und im Herbst 2015 neu für Syriza ins Parlament gewählter Abgeordneter, umriss ein Jahr später die »drei verschiedenen Zeitebenen« [englisch: temporalities] welche die radikale Linke »gleichzeitig durchleben« muss, sobald sie in den Staat eintritt. Da ist »die Zeit der Gegenwart«: die dichte und schwierige Zeit, in der die Syriza-Regierung – »in Geiselhaft« ihrer Kreditgeber als »Quasi-Protektorat« von EU und IWF – gefordert ist, »durchzuführen, wogegen sie gekämpft hat« und daher »die rezessiven und sozial ungerechten Maßnahmen gesetzlich umzusetzen und anzuwenden, die sie ideologisch zurückweist«. Das wirft »gravierende existenzielle Fragen und Gewissenskonflikte« auf, die nicht verschwinden aber »gelindert« werden können »durch die Aktivierung von zwei anderen Zeitebenen, die als Spuren der Zukunft in der Gegenwart existieren«. Die zweite Zeitebene umfasst die »mittlere Sicht von drei bis fünf Jahren«, auf der die Zeit für die Regierung »langsamer und länger« erscheint, während sie den Raum sondiert, den sie braucht, um ihr »Parallelprogramm« umzusetzen, um nicht nur »die Auswirkungen des Memorandums [= der Vereinbarungen mit EU und IWF] zu lindern«, sondern auch fortzuschreiten »mit Maßnahmen in eine klare linke Richtung … in engem Kontakt mit der Partei und den sozialen Bewegungen«. Die dritte und längste Zeitebene, »die Zeit radikaler linker Vision«, wird »nur [erreicht] durch kontinuierliche und gleichzeitige Durchführung und Unterhöhlung der Politik der Abkommen«. Wenn sich die dritte Zeitebene zu entfalten beginnt, befreit von den neoliberalen Attacken, erscheint »das volle Programm der Linken im 21. Jahrhundert«. Es geht darum, sich in die Zukunft zu flüchten, im Heute mit der Perspektive eines Futur II [future perfect] zu handeln, vom was wird gewesen sein. In diesem Sinn wird die Zukunft zum aktiven Faktor in der Gegenwart.

Der Rat an eine linke Regierung in Griechenland besteht also darin, den Kahlschlag durchzuführen und gleichzeitig mit sozialen Bewegungen und innerhalb der eigenen Partei den Widerstand gegen diese Maßnahmen, nun der eigenen »linken« Regierung, lebendig zu halten. Wie das im Hinblick auch noch auf einen »langen Prozess« gelingen soll, bleibt äußerst rätselhaft. Der Bruch innerhalb von Syriza kam recht schnell. Linke Parteien – von der RC in Italien bis hin zu Labour unter Corbyn -, die Kürzungen und Kahlschlag mittragen, und sei es nur auf örtlicher Ebene, verlieren ihre Glaubwürdigkeit und können sich nicht mehr auf die Bewegungen stützen, die gegen sie mobilisieren müssen. 

In einer US-weiten Videokonferenz über ihr Buch, organisiert von den Democratic Socialists of America (DSA), führte Leo Panitch aus, dass ein Bruch Griechenlands mit der Troika (der Europäischen Kommission, der Europäischen Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds) und damit der Rauswurf aus der EU »noch viel größere Kürzungen beinhaltet hätte«. Kleinere Reformen hätten von Syriza durchgeführt werden können. Größere Schritte jedoch hätten »beträchtliche ökonomische Brüche« samt Kapitalflucht und Kapitalstreiks mit sich gebracht. 

Wir sind wieder bei Poulantzas, der einen spürbaren ökonomischen Bruch unbedingt vermeiden will – und dann bleibt doch wenig Alternative zum Kurs von Syriza-Chef Tsipras. Dabei verordneten die verschiedenen Kürzungsregime in Griechenland inklusive der Tsipras-Regierung der griechischen Bevölkerung durchaus einen brutalen Bruch in Bezug auf Lebensstandard, Gesundheitsversorgung, Altersarmut und Arbeitslosigkeit – bei Beibehaltung des Systems, das eine solche Krise erneut hervorbringen wird.

Ein Aspekt bleibt dabei von Panitch und Gindin völlig ausgeblendet: Hätte sich die Syriza-Regierung geweigert, dem Spardiktat aus Berlin und Brüssel zu folgen, und hätten daraufhin weitere Kapitalflucht und Angriffe der EU und des IWF auf Griechenland eingesetzt, dann hätte eine Syriza-Regierung glaubwürdig dagegen mobilisieren und an die Arbeiterklasse international appellieren können, die zum Beispiel in Spanien, Italien und Irland unter ähnlichen Zwängen litt. Die Frage von linken Regierungen, von Podemos, von Corbyn in Britannien, selbst von Sinn Fein in Irland hätten sich vollkommen anders gestellt. Mit der Entscheidung, Kahlschlag und Kürzungen selbst durchzuführen, machte sich Syriza komplett überflüssig und kapitulierte. Das hat die Linke in Europa drastisch zurückgeworfen und die Bewegung in Griechenland entwaffnet. 

Die reale Entwicklung 2015 verweist auf den utopischen Charakter von Poulantzas’ Theorie: Der »lange Prozess« benötigt für eine lange Zeit eine Stabilität zwischen Machtzentren außerhalb des Staates (basierend auf den sozialen Bewegungen, ihren organisatorischen Ausdrücken wie Assemblies und Räten, einer lebendigen sozialistischen Partei) und einer graduell sehr gut ausbalancierten Umwandlung des Staates. Und all das findet dann – in der Theorie wohl orchestriert – statt bis hin zu einem »Bruch«, in dem der kapitalistische Staat zu einem anderen Staat umschlägt. 

Solch ein idealisierter Prozess hat nicht viel gemein mit dem Klassenkampf, der sich zum Beispiel in Griechenland zwischen 2010 und 2015 abspielte, mit der Gegenwehr der Arbeiterklasse, mit Dutzenden Generalstreiks, dem Versuch, beinahe aus dem Nichts eine neue Partei zu schaffen und der Notwendigkeit, im Kampf zu lernen und die eigene Führung zu stählen, während jede Schwäche vom Kapital international mit all seinen Institutionen ausgenutzt wurde. 

Selbst die auf der Linken zu Recht gepriesenen aber oftmals zu unrecht idealisierten Bolschewiki waren in ihrer Politik dem auf und ab des Klassenkampfs unterworfen. Keine Partei oder Führung im Klassenkampf wird jemals so über dem Kampf stehen, wie es Poulantzas vorschwebt. 

Real verteidigen dann Poulantzas sowie Gindin und Panitch gerade nicht zu tun, was sie als eigentlich notwendig beschreiben. Im Kapitel zur Corbyn-Bewegung in The Socialist Challenge Today wird das in Bezug auf Großbritannien deutlich: 

Im Gegensatz zum Aufstand der Neuen Linken in den 1970ern wird es heute merklich vermieden, offen die Frage der Notwendigkeit zu diskutieren, das ganze Finanzsystem in eine öffentliche Dienstleistung zu verwandeln. In Abwesenheit davon kann eine effektive sozialistische wirtschaftliche und soziale Restrukturierung von Großbritannien nicht realisiert werden, erst recht keine Dezentralisierung von wichtigen demokratischen Entscheidungen hin zur Ebene lokaler Gemeinschaften.

Das heißt nicht, dass dieses strategische Problem einfach durch das Rufen nach weitgehenden sofortigen Verstaatlichungen wirklich angegangen wird. Wie Tony Benn dem Labour Parteitag 1979 im Namen des NEC [= des Vorstands] erläuterte als er gegen die Annahme von Militants [der Vorgängerorganisation der Socialist Party England and Wales] Attitüde einer »Resolution-itis« sprach, die die sofortige Verstaatlichung der obersten 200 Industrie- und Finanzkonzerne forderte, versäumte das einfach, es ernst zu nehmen, »eine Partei der demokratischen, sozialistischen Reform« zu sein. Während er darauf bestand, ein »Satzungsklausel-4-Sozialist« zu sein [die vierte Klausel der Labour-Party-Satzung beschreibt die Ziele der Partei und sprach sich zwischen 1918 und 1995 für das Gemeineigentum der Industrie aus], […] bestand Benn doch richtigerweise darauf, dass jede ernsthafte sozialistische Strategie beginnen müsse »mit den üblichen Problemen der Reformer: Wir müssen das Wirtschaftssystem so betreiben, dass unsere Leute, die darin eingeschlossen sind, geschützt bleiben, während wir das System ändern«. 

Das Dilemma zwischen eigentlich Notwendigem aber leider nicht Machbarem wird noch schlimmer, wenn Panitch und Gindin sich auch noch dem beugen, was »unwahrscheinlich« und weder »plausibel« noch »umsetzbar« erscheint:

Dieses krasse Dilemma wurde auch ernsthaft von Seumas Milne (dem ehemaligen Guardian-Journalist, der Corbyns rechte Hand wurde) in seinem von ihm 1989 mit geschriebenen Buch Beyond the Casino Economy adressiert. Auf der einen Seite argumentiert das Buch, dass »eine der notwendigen Bedingungen für eine sozialistische Gesellschaft die Überführung der [obersten] hunderte Konzerne in demokratisches Eigentum und unter rechenschaftspflichtige öffentliche Organe ist«. Auf der anderen Seite räumte es ein, dass »in den vorhersehbaren Umständen der nächsten Jahre die Sozialisierung aller privaten Großunternehmen sehr unwahrscheinlich erscheint«, was einschränkt, »was plausiblerweise als Teil eines umsetzbaren Programms einer Labour-Regierung in den kommenden Jahren vorgeschlagen werden kann – selbst einer, die in einer Atmosphäre radikaler Erwartungen gewählt wird«. 

3. Eine Marxistische Staatstheorie 

Poulantzas’ Theorie vom Staat beginnt mit Marx und Engels: Der Staat als Ganzes (in seiner Totalität von repressiven und nicht-offensichtlich repressiven Organen) ist ein unabdingbarer Teil einer zum Zerreißen angespannten, widersprüchlichen Klassengesellschaft. 

Der Staat reflektiert diese ganze Gesellschaft, einschließlich der Dominanz der herrschenden Klasse, während er gleichzeitig das Kräfteverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten abbildet und sich scheinbar über die Gesellschaft erhebt. Das beinhaltet, dass der Staat zeitweise zum Beispiel Arbeiterrechte, die in der Vergangenheit gewonnen wurden, verteidigen kann. Das ändert allerdings nichts am Klassencharakter des Staates, der durch und durch kapitalistisch bleibt. 

Poulantzas verteidigt die Ideen von Marx und Engels gegen verschieden Interpretationen auf der Linken. Er beschreibt drei Strömungen, die er ablehnt: 

Eine Strömung argumentiere, der Staat sei »das Äquivalent der politischen Vorherrschaft«, staatliche Aktivitäten »gingen in ihrer Gesamtheit vom Willen der dominierenden Klasse oder der von ihr angeheuerten Politiker*innen aus«. 

Eine weiterer Teil der Linken teile den Staat in zwei Teile: einen guten (soziale Sicherheit, Bildung, …) und einen schlechten (repressive Kräfte).

Eine dritte Herangehensweise präsentiere den Staat, als ob »es eine eigenständige Staatsmacht gäbe, die nur später von der dominierenden Klasse auf verschiedene Arten genutzt wird. Offen gesagt sollten sie nicht von der Klassennatur des Staates sprechen, sondern von der Klassennutzung des Staates«. 

Poulantzas präsentiert Lenin als Vertreter des ersten Camps. Doch in Staat und Revolution, einem von Lenins Hauptwerken, verteidigt dieser recht klar Marx und Engels ursprüngliche Haltung. In zustimmender Weise zitiert er Engels:  

»Der Staat«, sagt Engels bei der Zusammenfassung seiner geschichtlichen Analyse, »ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufgezwungenen Macht; ebenso wenig ist er ›die Wirklichkeit der sittlichen Idee‹, ›das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft‹, wie Hegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaft auf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Eingeständnis, dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruch mit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätze gespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aber diese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischen Interessen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosem Kampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft stehende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, innerhalb der Schranken der ›Ordnung‹ halten soll; und diese, aus der Gesellschaft hervorgegangene, aber sich über sie stellende, sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.«

Der Staat ist für Engels, Lenin – und für Poulantzas – ein Ausdruck und eine Existenzbedingung einer Gesellschaftsform, die nicht ohne Zwang zusammengehalten werden kann und deren Funktionieren auf diese staatlichen Organisierung unter Zwang angewiesen ist. Der Staat erhebt sich scheinbar über die Klassen, ist aber nie neutral. Poulantzas stimmt dem ausdrücklich zu und argumentiert, »Staatsmacht (die der Bourgeoisie im Fall des kapitalistischen Staates) ist in sein Wesen [englisch: materiality] eingraviert«.  

Leider geht Poulantzas dabei sehr abstrakt vor. Seine unkonkrete Betrachtung von »Staatsmacht« verwischt die Unterschiede, die Marxist*innen gerade im Umgang mit dem bürgerlichen Staat über mehr als 100 Jahre hinweg herausgearbeitet haben. 

In aller Kürze: 

Die Teilnahme an Wahlen zu und die Tätigkeit in Parlamenten als Opposition wird von Marxist*innen generell unterstützt, aber nicht als »Staatsmacht« glorifiziert. 

Die Teilnahme an bürgerlichen Regierungen wurde von Marxist*innen seit Rosa Luxemburgs Kritik des Regierungseintritts von Millerand 1898 in Frankreich scharf abgelehnt, da es in der Realität dabei nicht um Ergreifung von »Staatsmacht« geht, sondern um Unterordnung von Sozialist*innen unter pro-kapitalistische Politik. 

Marxist*innen unterstützen sehr wohl den Kampf um demokratische Reformen innerhalb des Kapitalismus, um die Bedingungen zu verändern, in denen der Klassenkampf stattfindet (Rechte wie Pressefreiheit, der Freiheit sich in Gewerkschaften und Parteien zu organisieren, …). 

Die marxistische Literatur über Arbeiterregierungen, die innerhalb des kapitalistischen Rahmens beginnen können und doch recht schnell darüber hinaus weisen müssen oder beseitigt werden, ist interessant und vielfältig (von den Diskussionen auf dem vierten Kongress der Kommunistischen Internationale über Dokumente der KPD von 1923 bis zu den Erörterungen von Trotzki im Übergangsprogramm von 1938 – um nur einige klassische Beispiele zu nennen, die auch zu Poulantzas Zeiten gut verfügbar waren).

»Staatsmacht« bei Poulantzas verwischt all das.  

4. Abschied von Marx’ »verbalen Tricks«?

Dann bricht Poulantzas mit dieser Theorie vom Staat und der Schlussfolgerung, die Marx daraus gezogen hat, dass die Arbeiterklasse den bürgerlichen Staat mit einem Arbeiterstaat ersetzen muss. 

Poulantzas argumentiert ausdrücklich für »direkte Demokratie«, zum Beispiel in Form von Arbeiterräten oder Sowjets, in lang anhaltender Koexistenz mit einem kapitalistischen Parlament. Er schreibt: 

Der Ausdruck einer »umfassenden Transformation des Staatsapparats auf dem demokratischen Weg zum Sozialismus« weist darauf hin, dass es nicht länger Platz gibt für das, was traditionell Zerschlagen oder Zerstören des Apparats genannt wurde. Fakt bleibt jedoch, dass der Begriff Zerschlagung, den auch Marx für indikative Zwecke nutzte, am Ende ein sehr präzises historisches Phänomen benennt: namentlich die Beseitigung jeder Art von repräsentativer Demokratie oder »formaler« Freiheiten zugunsten von ausschließlich direkter, Basisdemokratie und sogenannten realen Freiheiten. Es ist notwendig, Stellung zu beziehen. Wenn wir den demokratischen Weg zum Sozialismus selbst so verstehen, dass er neben anderen Dingen auch politischen (parteilichen) und ideologischen Pluralismus beinhaltet, die Anerkennung der Rolle des allgemeinen Wahlrechts, und die Ausweitung und Vertiefung aller politischen Freiheiten inklusive für Kontrahenten, dann kann es nur ein verbaler Trick sein, von der Zerschlagung oder Zerstörung des Staatsapparats zu sprechen. Eingeschlossen bleibt, durch alle verschiedenen Transformationen hindurch, eine reale Permanenz und Kontinuität der Institutionen repräsentativer Demokratie – nicht als bedauernswerte Relikte, die es so lange wie nötig zu tolerieren gilt, sondern als essenzielle Bedingung eines demokratischen Sozialismus. 

Für Karl Marx war die Zerschlagung des Staatsapparats kein verbaler Trick, sondern reale Schlussfolgerung aus den Erfahrungen der Arbeiterklasse. Im »Bürgerkrieg in Frankreich« schrieb Marx über die Erfahrungen der Pariser Commune 1871: 

Die Arbeiterklasse kann nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und diese für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen.

Marx beschrieb dort die »zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit«. Und weiter:

Das erste Dekret der Kommune war […] die Unterdrückung des stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffnete Volk.

Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeines Stimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewählten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetzbar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oder anerkannten Vertretern der Arbeiterklasse. Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit. Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurde sofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und in das verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug der Kommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Verwaltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an abwärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgt werden. Die erworbenen Anrechte und die Repräsentationsgelder der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesen Würdenträgern selbst. […] Nicht nur die städtische Verwaltung, sondern auch die ganze, bisher durch den Staat ausgeübte Initiative wurde in die Hände der Kommune gelegt.

Das stehende Heer und die Polizei, die Werkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung einmal beseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistliche Unterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen […]. Sämtliche Unterrichtsanstalten wurden dem Volk unentgeltlich geöffnet und gleichzeitig von aller Einmischung des Staats und der Kirche gereinigt. […]

Die richterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängigkeit, die nur dazu gedient hatte, ihre Unterwürfigkeit unter alle aufeinanderfolgenden Regierungen zu verdecken, deren jeder sie, der Reihe nach, den Eid der Treue geschworen und gebrochen hatten. Wie alle übrigen öffentlichen Diener, sollten sie fernerhin gewählt, verantwortlich und absetzbar sein.

Für Marx und für Lenin, der sich auf Marx bezieht, war das Ziel keinesfalls eine Doppelherrschaft. Entwickelt sich aus einem revolutionären Bruch heraus eine Doppelherrschaft (Fortexistenz des alten Staatsapparats bei gleichzeitiger Entwicklung von Arbeiterräten wie in der Commune), dann gilt es mit revolutionärer Politik, diese Doppelmacht so schnell wie möglich zugunsten der Arbeiterklasse aufzulösen. 

In der von Marx beschriebenen Natur des Staates liegt es, gerade keinerlei Toleranz für die Existenz widerstreitender Staatsapparate widerstreitender Klassen zu dulden. Die Situation der Doppelherrschaft (direkte Demokratie auf Seiten der Arbeiterklasse mittels Räten und zeitgleiche Existenz bürgerlicher Parlamente) wirft die Frage ganz praktisch auf: wer entscheidet? Und das ist keine technische, sondern eine Machtfrage, die so oder so radikal entschieden wird. 

Tatsächlich ist es gerade Poulantzas, der für eine lang anhaltende Doppelherrschaft eintritt, in der neben den Formen bürgerlicher Demokratie über einen langen Zeitraum hinweg Formen proletarischer Demokratie (direkter Demokratie, Räten) koexistieren sollen. 

Dieser idealisierte Prozess korrespondiert leider in keiner Weise mit dem Auf und Ab im Klassenkampf. Er ersetzt den Kampf lebendiger Kräfte mit einer Vision einer allmächtigen Arbeiterklasse, die eine revolutionäre Umwandlung Schritt für Schritt in einem glatten Prozess umsetzen kann. 

Die von Gindin und Panitch angeführten Beispiele, besonders die Erfahrung mit Syriza in Griechenland, sprechen recht deutlich gegen Poulantzas, Panitch und Gindin.

5. Bruch oder doch kein Bruch

Poulantzas spricht vom notwendigen Bruch mit dem kapitalistischen Staat. Dann argumentiert er, alles dafür zu tun, die Auswirkungen und Implikationen eines Bruchs zu vermeiden. Das passt nicht und führt zu einem reformistischen Konzept. 

Poulantzas beharrt darauf, in der marxistischen Tradition zu stehen und für einen Bruch mit dem Kapitalismus und seinem unreformierbaren kapitalistischen Staat einzutreten. Er hält die Abkehr davon für reformistisch – und versucht, sich selbst gegen den Vorwurf des Reformismus zu wehren. 

Nun, Reformismus ist eine immer latente Gefahr, nicht ein Laster, das von jeder anderen Strategie ausgeht bis auf die der Doppelherrschaft – selbst wenn, im Fall des demokratischen Wegs zum Sozialismus, der Maßstab des Reformismus nicht so scharf ist wie in der Strategie der Doppelherrschaft und selbst wenn (es macht keinen Sinn das zu verleugnen) die Risiken der Sozialdemokratisierung dadurch erhöht werden.

Das Kräfteverhältnis innerhalb des Staates jederzeit zu verschieben, bedeutet nicht, in einer ungebrochenen Aneinanderreihung eine Reform nach der anderen zu gewinnen, den Staatsapparat Stück für Stück zu erobern oder einfach die Regierungspositionen zu besetzen. Es beschreibt nichts anderes als eine Stufe realer Brüche, deren Höhepunkt – und es muss einen solchen geben – erreicht ist, wenn das Kräfteverhältnis auf dem strategischen Terrains des Staates umschwenkt zugunsten der Masse der Bevölkerung. (State, Power, Socialism)

Im Interview mit Henri Weber führte Poulantzas 1977 weiter aus, was er mit ‘Bruch’ meint (abgedruckt im Poulantzas Reader, Kapitel 14, und von dort übersetzt):

Wir haben über den Bruch gesprochen. Aber es ist tatsächlich nicht klar, dass es einen einzigen [englisch: one] großen Bruch geben wird. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass man Gefahr läuft, bei einer Theorie eines allmählichen Übergangs zu landen [englisch: risk falling into gradualism], wenn man von einer Serie von Brüchen spricht. Nichtsdestotrotz, wenn wir von einem langen Prozess reden, dann müssen wir uns mit mit dem Fakt abfinden, dass das nur eine Serien von Brüchen bedeuten kann, ob man sie nun aufeinander folgend nennt oder nicht. 

Was für mich zählt, ist die Idee eines »langen Prozesses«.

Zusammenfassend erscheint klar, dass Poulantzas für einen unter allen Umständen sanften Übergang auf dem Gebiet der Macht im Staat und in den ökonomischen Verhältnissen eintritt, so dass nur eine reformistische Praxis übrig bleibt.  

Zu Poulantzas Verteidigung kann man anführen, dass diese Ideen in den 1970er Jahren noch eher als realistisch gelten konnten. Sozialdemokratische und Sozialistische Parteien kämpften um Parlamentsmehrheiten und die Hoffnungen auf eine sozialistische Umwandlung – siehe Mitterrands Wahlerfolg 1981 (ein Jahr nach Poulantzas Tod) – waren dementsprechend groß. 

Sam Gindin und Leo Panitch versuchen, diese Ideen ins 21. Jahrhundert zu hieven, unter den Bedingungen, die Jahrzehnte an Neoliberalismus hervorgebracht haben mit Angriffen auf einstige Reformen und auf die Organisationen der Arbeiterklasse wie Gewerkschaften und Parteien, unter Bedingungen kapitalistischer wirtschaftlicher Stagnation und Krisen. Das erscheint heute noch utopischer als in den 1970ern.