Die Besetzung einiger Straßenzüge in Seattle war ein großartiger Versuch der Selbstermächtigung der »Black Lives Matter«-Bewegung – obwohl er scheiterte

Von Stephan Kimmerle, Seattle
Stephan Kimmerle ist ein Aktivist der Democratic Socialists of America (DSA) in Seattle und Mitglied des »Reform & Revolution«-Caucus in der DSA.
Während des Höhepunktes des Black-Lives-Matter-Aufstandes gegen Polizeigewalt und Rassismus im Juni gelang es Demonstrant*innen in Seattle, Tränengas und Prügelattacken der staatlichen Ordnungshüter Stand zu halten. Schließlich kippte die öffentliche Meinung so, dass Seattles Bürgermeisterin die Lage zu beruhigen versuchte, indem sie vorübergehende Räumung einer Polizeistation im Zentrum der Proteste anordnete. Die anschließende Besetzung einer Reihe von Straßen rund um das Polizeirevier und im Cal Anderson Park in Seattles Stadtteil Capitol Hill erfuhr weit über die Stadt hinaus mediales Interesse und war Gegenstand einer US-weiten Debatte.

Die Besetzung, zunächst unter dem Namen Capitol Hill Autonomous Zone (CHAZ), später Capitol Hill Organized Protest (CHOP), schuf ein lebhaftes Zentrum des Widerstands. Täglich kamen Tausende, um über Politik zu diskutieren, Reden zu hören, gemeinsam Aktivitäten zu planen und eine Gemeinschaft mit Gartenarbeit, Zelten, kostenlosem Essen und kostenloser medizinischer Versorgung aufzubauen.
Doch rund drei Wochen später war CHOP zu einer politischen Hypothek für die Bewegung geworden, die drohte die politische Sympathie in der Öffentlichkeit zu untergraben. Eine Reihe von Schießereien, bei denen drei Menschen ums Leben kamen, und rechte Angriffe führten zu einer angespannten Situation und letztlich einem Niedergang von CHOP, noch bevor die Polizei das Gebiet räumte und ihre Polizeiwache wieder in Besitz nahm.
Was als »autonome polizeifreie Zone« begonnen hatte, erlebte eine Zunahme der verschiedenen Spielarten polizeilichen oder para-polizeilichen Handelns. Als Reaktion auf die Bedrohungen durch Angriffe extrem rechter Gruppen und auf Konflikte innerhalb von CHOP, erklärten sich Aktivist*innen, teils bewaffnet, selbst zu Ordnungshüter*innen innerhalb von CHOP und begannen ihre Patrouillen. Dies geschah jedoch ohne demokratische Zustimmung oder Rechenschaftspflicht gegenüber der CHOP-Gemeinschaft. Zugleich heuerten in dem Gebiet kleine und große Unternehmen verstärkt private Sicherheitskräfte an, die gegenüber der Öffentlichkeit noch weniger rechenschaftspflichtig waren als die von der BLM-Bewegung zurecht scharf kritisierte Polizei.
Anders als später von Medien und Politiker*innen behauptet, bestand das Problem nicht darin, dass die Polizei rausgeschmissen worden war, sondern dass sie nicht durch eine von der Bewegung legitimierte Kraft ersetzt wurde, die Selbstschutz hätte organisieren können. Unter den Bedingungen der rassistischen, sexistischen, entfremdeten und zutiefst ungleichen Klassengesellschaft ging es darum, Prinzipien der Solidarität, des Antirassismus und des Antisexismus innerhalb des CHOP durchzusetzen.
Diese Erkenntnis ist wichtig für die Diskussionen über den Umgang mit der Polizei, die in den USA unter den Schlagwörtern »abolish« (abschaffen) und »defund« (drastische Kürzung der Polizeibudgets) geführt werden.
Der Beginn der polizeifreien Zone
Als die Polizei die Straße verbarrikadierte und am 1. Juni eine Demonstration nach dem Mord an George Floyd durch den Stadtteil Capitol Hill blockierte, leitete sie damit eine einwöchige Pattsituation mit den Demonstrant*innen ein. Trotz Tränengaseinsätzen, Gummigeschossen und Blendgranaten der Polizei blieben die Demonstrant*innen Nacht für Nacht für Nacht auf der Straße – selbst als die Polizei Scharfschützen auf den Dächern postierte.
Die Polizei und das politische Establishment (in Seattle sind dies durchweg Politiker*innen der Demokratischen Partei) führten in den Medien einen erbitterten Krieg, um die Demonstrant*innen zu delegitimieren. Dennoch nahm die Unterstützung für die Proteste weiter zu.
Angesichts der weit verbreiteten öffentlichen Opposition wies die Bürgermeisterin Jenny Durkan schließlich die Polizei an, sich zurückzuziehen und die Polizeistation im Zentrum der Proteste vorübergehend aufzugeben, um die Situation zu entschärfen. Die Polizei, verärgert über den Rückzug, verbreitete in den Medien Gerüchte, dass die Demonstrant*innen die verlassene Polizeistation niederbrennen würden. Tatsächlich aber verwandelten die Aktivist*innen den Block in einen lebendigen Tummelplatz der antirassistischen Organisierung und Debatte.
Die sehr heterogene Gruppe von Menschen, die dort zusammenkam, tat ihr Bestes, um all den Komplikationen zu begegnen, die eine »polizeifreie Zone« mit sich bringt, wenn sie inmitten einer der ungleichsten Städte der Welt nur von Freiwilligen betrieben wird.
Die Drohungen gegen CHOP
Die Demonstrant*innen waren auch in der polizeifreien Zone ständig von Gewalt durch Seattles Polizei und andere Sicherheitskräfte des Staates bedroht. Um erneute Einsätze zu legitimieren, behauptete die von der Bürgermeisterin eingesetzte Polizeichefin kurz nach Beginn von CHOP, dass Demonstrant*innen Straßensperren mit Ausweiskontrollen eingerichtet hätten und lokale Kleinunternehmen erpressen würden. Diese erfundenen Behauptungen wurden von den nationalen Medienkonzernen weit verbreitet.
Immer wieder signalisierten Bürgermeisterin und Polizei, ihre Polizeiwache wieder in Betrieb nehmen zu wollen. Angesichts der öffentliche Stimmung traute sich Durkan allerdings erst am 1. Juli um 2 Uhr morgens, den offiziellen Befehl zu unterzeichnen, den gesamten Bereich zu räumen und die Polizeistation wieder in Beschlag zu nehmen.
Parallel zu den Drohungen der Polizei, sah sich die besetzte Zone mehrfach Angriffen von rechtsextremen Gruppen ausgesetzt. Nachdem ein Schild an der Grenze der autonomen Zone, »You are leaving the United States« über rechte Medien landesweit Aufmerksamkeit erhalten hatte, tauchten rechte und rechtsextreme Gruppen auf, um das Gebiet nach eigenen Angaben »zurückzuerobern«.
Tatsächliche und vermeintliche Drohungen von Nazis führten zu Verteidigungsvorbereitungen innerhalb von CHOP. Dies wiederum wurde in Medien aufgegriffen, um CHOP als militarisiert und gewalttätig darzustellen.
Die Gewalt innerhalb von CHOP
Am Wochenende vom 20. zum 21. Juni wurden drei Menschen auf oder in der Nähe von CHOP erschossen, unter anderem ein 19-jähriger Schwarzer kam ums Leben. Bis heute ist unklar, was geschah und wer dafür verantwortlich ist. Die Polizeichefin Carmen Best aber behauptete, die Demonstrant*innen hätten die Polizei daran gehindert, zu einem der Opfer zu gelangen. Dies war ein wirksames Mittel, um die öffentliche Meinung gegen CHOP zu wenden, obwohl Videos später klar belegten, dass diese Behauptung eine Lüge war.
Der Capitol Hill Blog berichtete über weitere Schusswaffengewalt am 23. Juni, bei dem ein Teenager getötet, und von einem weiteren Vorfall am 28. Juni, bei dem ein 14-Jähriger verwundet wurde. Die Berichte brachten einen der Gewaltausbrüche mit häuslicher Gewalt in Verbindung und es wurden darüber hinaus eine Reihe von Anschuldigungen wegen sexueller Übergriffe erhoben.
Es lagen und liegen bis heute keine vollständigen Informationen zu diesen Vorfällen vor. Bürgermeisterin und Polizei verbreiteten systematisch Fehlinformationen, die von den landesweiten Medien aufgegriffen wurden. Nach diesen Vorfällen änderte sich die Atmosphäre innerhalb von CHOP jedoch völlig.
Die Fähigkeit der Bewegung, auf diese Herausforderungen und Bedrohungen organisiert zu reagieren, war begrenzt. Da es in CHOP keine regelmäßigen allgemeinen Versammlungen mit demokratischen Entscheidungsfindungen und keine gewählten Sprecher*innen oder Organisator*innen der Bewegung gab, war dies sehr schwer möglich.
Orte der Solidarität und ihre Verteidigung
Die selbsterklärte polizeifreie, autonome Zone zerbrach also nicht erst, als sie von der Polizei schließlich aufgelöst und geräumt wurde. Sie war zu diesem Zeitpunkt bereits implodiert. Die Medien griffen dies nur zu gerne auf. CNN behauptete am 5. Juli, die »menschliche Natur« mache es schwierig, eine Welt ohne Polizei zu schaffen.
Doch statt den Beweis für irgendein unveränderliches Merkmal der »menschlichen Natur« zu liefern, zeigte CHOP vielmehr, dass es unmöglich ist, eine nachhaltige Insel des Friedens zu schaffen, die vom Ozean eines gewalttätigen und unmenschlichen Systems umgeben ist. Viele CHOP-Organisator*innen und -Teilnehmer*innen spürten von Anfang an die sehr realen Grenzen dessen, was in CHOP aufgebaut werden konnte.
Alle Merkmale dieser Gesellschaft – Armut, Rassismus, sexuelle Übergriffe, Homophobie – sind Themen, mit denen sich soziale Bewegungen und linke Organisationen in ihren eigenen Reihen ständig auseinandersetzen müssen. In CHOP stiegen die Unstimmigkeiten zwischen Aktivist*innen darüber, wie der entstandene gemeinsame Raum aussehen und wie mit den wachsenden Schwierigkeiten umgegangen werden sollte.
Die Polizei wird von der herrschenden Klasse genutzt, um mit aller Gewalt den Deckel auf dem Topf brodelnder Konflikte zu halten, die sich durch diese Gesellschaft ziehen. Unsere kollektive Befreiung erfordert es, diesen Deckel zu beseitigen, aber die Bewegung muss sich auch der Aufgabe stellen, mit den brodelnden Konflikten selbst fertig zu werden, indem sie sich mit den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen auseinandersetzt, die systematisch Spannungen, Konflikte, antisoziales Verhalten und Gewalt erzeugen.

CHOP entstand aus dem Black-Lives-Matter-Aufstand und war ein wunderschöner Versuch, die Bewegung aufzubauen. Für zukünftige Bewegungen, die auf den Erfahrungen von CHOP aufbauen werden, bleiben zwei Hauptfragen:
Erstens: Kann es eine demokratisch gewählte und rechenschaftspflichtige Leitung und einen solchen Selbstschutz geben?
In Seattle gibt es Anführer*innen der BLM-Bewegung, die große Autorität genießen. Es war beeindruckend, wie Nikkita Oliver der Bewegung Richtung und Orientierung bot. Nikkita lehnte die Versuche der Bürgermeisterin Jenny Durkan ab, sie zu kooptieren. Als sie als Anführerin angesprochen wurde, erklärte Nikkita, dass die Gemeinschaft für sich selbst sprechen würde.
Aber eine gewählte Leitung von CHOP, die sich zum Beispiel auf tägliche Vollversammlungen gestützt hätte, die jederzeit hätte abberufen werden können, hätte der Bewegung die Chance gegeben, handlungsfähiger zu werden. Sie hätte keinen Zweifel daran gelassen, dass Menschen wie Nikkita von der Bewegung gebeten und autorisiert wurden, eine gewisse, unverzichtbare öffentliche Rolle bei ihrer Verteidigung zu spielen. Versuche, die drei Hauptforderungen (Definanzierung der Polizei, Finanzierung der Gemeinschaften, Freilassung aller Verhafteten) zu verwässern und zu verzerren, hätten in der breiten Öffentlichkeit viel besser zurückgewiesen werden können. Und eine solche Organisierung hätte schließlich wesentlich dazu beitragen können, die Bewegung in ihren Aktionen zu einen. All das hätte auch der Organisierung von CHOP entscheidend geholfen.
Dies wäre auch eine Basis gewesen, einen eigenen Ordnerdienst aufzubauen, um sich gegen gewalttätige Angriffe von rechts und von der Polizei zu verteidigen und um unsoziales Verhalten, das die Sicherheit der Teilnehmer*innen gefährdete, nicht zuzulassen. Die Erfahrung von CHOP zeigt, dass es nicht ausreicht, die bestehende Polizei rauszuschmeißen oder abzuschaffen. Die Aufgabe, die sich der Bewegung stellte, war es, sich zu organisieren, stark genug zu werden, um Prinzipien der Solidarität vor Ort zu verteidigen. Je stärker eine vereinte, multi-ethnische Bewegung der Arbeiterklasse ist, umso eher kann sie solche Kräfte aufbauen und kontrollieren.
Eine von vielen inspirierenden Entwicklungen im Aufstand von Seattle waren die Fahrradbrigaden, die die Demonstrant*innen spontan zum Selbstschutz organisierten. Dutzende von Radfahrer*innen und manchmal auch Wohnwagen sperrten kollektiv Straßen für den Verkehr und blockierten die Polizei und andere potenzielle Angreifer*innen.
Hätten die Fahrradbrigaden erweitert werden können, um die Herausforderungen, vor denen CHOP stand, zu bewältigen? Das wäre ein großartiger Versuch gewesen. Aber letztlich geht es dann darum, diese neuen Ordner*innen auch demokratisch und kollektiv zu kontrollieren.
Zweitens: Was heißt das alles für die nun in den USA breit diskutierte Frage einer De-Finanzierung oder einer Abschaffung der Polizei, für »defunding« und »abolishing«?
Eine weit verbreitete Erkenntnis innerhalb des anhaltenden Aufstands für das Leben von Schwarzen in den USA ist, dass die Polizei nicht reformierbar ist. Zu viele Versprechen, zu viele Reformversuche über Jahrzehnte hinterließen kaum Spuren in den Polizeibehörden.
Unter dem Druck der Bewegung versprach daher eine Mehrheit des Stadtrats in Minneapolis, der Stadt in der George Floyd ermordet wurde, die Polizei abzuschaffen – und sucht seither nach Alternativen. Das könnte dann auf Versuch hinauslaufen, die Polizei mit neuem Logo und neuem Namen neu aufzubauen. Angesichts von Rassismus und Korruption kann dies kurzfristig sogar helfen. Grundsätzlich ändert sich damit aber noch nicht viel.
In Seattle beteuerten sieben der neun Stadträte, das Polizeibudget halbieren zu wollen, und die jährlich dort eingesparten 200 Million Dollar zugunsten von People of Color und in soziale Leistungen zu reinvestieren. Die Erfahrung von CHOP zeigt allerdings, dass die sozialen Ursachen in der extrem polarisierten US-Gesellschaft aufgegriffen werden müssen, um grundsätzlich etwas zu verändern – und dafür ist dieser Betrag marginal. Das verweist dann eher auf die alte marxistische Weisheit, dass eine Klassengesellschaft mit ihrem Elend eine Polizei auf dem Boden ihrer Klassenverhältnisse reproduziert, so oder so. Das heißt nicht, dass demokratische Reformen sinnlos sind. Es bestätigt allerdings, dass letztlich Kapitalismus und ein gegenüber der Mehrheit der Bevölkerung feindlicher Polizeiapparat nur gemeinsam abgeschafft werden können.