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Ende der Corbyn-Bewegung: »Zu viel mobilisiert, nicht genug organisiert«

Ein Interview mit Natasha Josette, einer Organisatorin der Corbyn-Bewegung und einer Aktivistin von Momentum, die dazu beitrug, das »The World Transformed«-Festival auf die Beine zu stellen

Dieser Artikel erschien in Lernen im Kampf Nr. 6. Unterstütze uns und abonniere unser Magazin.

Du warst über die letzten fünf Jahre hinweg auf verschiedenen Ebenen innerhalb der Corbyn-Bewegung beteiligt. Wie bist Du Teil dieser Entwicklung rund um Corbyn geworden und was waren Deine Erfahrungen dabei?

Vor fünf Jahren, im Sommer 2015, hörte ich im Radio von jemandem mit dem Namen Jeremy Corbyn, der die Chance hätte, der nächste Vorsitzende der Labour Party zu werden. Der Name klang irgendwie bekannt. Als alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern hatte ich nicht viel Zeit für Politik. Aber ich wuchs als Tochter zweier politisch engagierter Eltern auf. Und als ich meine Mutter an diesem Tag über diesen Typ Corbyn fragte, da wurde sie fast schon ein bisschen wütend auf mich, dass ich Jeremy vergessen hatte. Corbyn hatte einen Solidaritätsbrief für meinen Vater geschrieben, als der in Malaysia als politischer Aktivist inhaftiert war. Das war Ende der 1980er, als ich so etwa acht Jahre alt war.

Also da war schon eine Verbindung von Solidarität, ein Interesse und ein Enthusiasmus für Corbyn, die in der Geschichte meiner Familie verwurzelt waren. Aber meine Begeisterung entstand aus den Veränderungen, die ich mit dem Aufstieg von Corbyn vor Ort sehen konnte. Ich trat bei Momentum ein und wurde aktiv.

Du wurdest zu einer der Organisator*innen des »The World Transformed«-Festivals 2016, einem politischen Festival, einem kulturellen Zusammenkommen, einem offenen Raum, Meinungen auszutauschen und Leute zu treffen – etwas für Kopf, Herz und Seele. Wie kam das?

Das erwuchs aus den Diskussionen, als wir eine Momentum-Konferenz organisieren wollten. Konferenzen sind nicht sehr zugänglich für Menschen. Wir wollten, dass mehr Leute aktiv werden konnten. Wir wollten Platz schaffen für Menschen wie mich – Alleinerziehende, Leute der Arbeiterklasse, People of Colour. Daraus entstand die Idee, das etwas anders zu machen. »The World Transformed« wurde ein politisches und kulturelles Zusammenkommen, ein offener Raum für die wachsende Zahl an Leuten, die sich plötzlich mit Politik beschäftigten, um Jeremy Corbyns Pläne zu unterstützen. Es wurde zu einem Ort, wo Politik und umher rennende Kinder zusammengebracht werden konnten.

All das ist verbunden mit Deinen Aktivitäten in Momentum. Könntest Du etwas mehr über Momentum sagen? Du warst 2018 Teil der Führung, der »National Coordinating Group«?

Ja, das stimmt. Ich denke, Momentum hat Großartiges geleistet, Corbyns Vorhaben in den Auseinandersetzungen voran zu treiben, die Labour Party umzuwandeln und eine sozialistische Agenda zu fördern. Im Moment bin ich erfreut über die neu gewählte Führung von Momentum, die aus einer Gruppe namens »Forward Momentum« kommt, einer Liste von Kandidat*innen, die dieses Jahr gemeinsam angetreten sind und gewählt wurden, um Momentum weiter zu entwickeln. 

Über fünf Jahre hinweg waren wir gezwungen, uns auf die Politik rund um Wahlen zu fokussieren, darauf vorbereitet zu sein, die nächste Regierung zu stellen, an der Macht zu sein. Wir haben uns nicht genug darauf fokussiert, eine Basis zu schaffen, auf politische Ausbildung, darauf, Wurzeln zu schlagen in den Communities.

Jetzt befinden wir uns in einer komplett anderen Situation. Ganz offensichtlich sind wir nicht mehr besonders nah dran, in der nächsten Regierung zu sitzen. Mit all den Rückschlägen – vielleicht ist das eine Chance für uns, diese Wurzeln zu schlagen und dabei mitzuwirken, die notwendige Aufgabe zu bewältigen, Leute politisch auszubilden.

Aus der Distanz schien es so, dass Momentum eher eine Pressuregroup war, ein Verbund, um ein gewisses Ziel voran zu treiben, ohne selbst in Ortsgruppen organisiert zu sein, ohne selbst eine Organisation von Aktivist*innen von unten nach oben aufzubauen. Wäre das eine faire Beschreibung?

Wir waren immer mit der nächsten Wahl konfrontiert, der nächsten Situation, in der wir bereit sein mussten, die Regierung zu übernehmen. Wir haben zu viel mobilisiert und nicht genug organisiert. Wir hatten einige Erfolge, Kandidat*innen aufzustellen, und einige Positionen zu gewinnen, aber wir hatten nie genug Leute. 

Ich habe mich auf Community Organising konzentriert, die Organisierung in und von lokalen Gemeinschaften, was meiner Meinung nach wichtiger ist für Leute aus der Arbeiterklasse. Aber ich verstehe, dass der Fokus die ganze Zeit darauf lag, rund um Wahlen zu mobilisieren, was Momentum auch wirklich gut gemacht hat mit digitalen Werkzeugen und Kampagnetechniken. 

Könntest Du das noch etwas erklären: Ihr hattet nie genug Leute. Es sah so aus, dass Hunderttausende sich einmischen wollten in den Versuch, Labour zu ihrem Werkzeug  der Veränderung zu machen.

Das stimmt, aber das braucht Zeit; man muss das organisieren, man braucht politische Bildung.

Vor fünf Jahren wäre ich nicht selbstbewusst genug gewesen, Dir dieses Interview zu geben, mich zu Wort zu melden und die Rolle zu spielen, die ich über die letzten Jahre gespielt habe. Das ist ein Prozess. Und wir brauchen viel mehr neue Aktivist*innen. Das braucht Zeit. Wir hatten diese Zeit nicht. 

Und man muss sich auch verankern in den Communities. 

Ich wurde zur führenden digitalen Community-Organisatorin der Labour Party unter Jeremy Corbyn, um die Kontaktaufnahme und Verankerung in den Communities zu koordinieren, um die Macht der Arbeiterklasse in den Communities aufzubauen. 19.000 Leute sind durch unser Community-Organising-Programm gegangen, um die Macht der Arbeiterklasse von unten aufzubauen. Aber das war nur ein Anfang.   

Schau mal nach Putney im Süden von London. Wir hatten dort eine Organisatorin, die von üblen Lebensbedingungen in einem Appartementblock hörte. Sie ging dorthin und organisierte einen »listening outreach«, eine Initiative uns in Gemeinschaften hinein auszustrecken und zuzuhören. Sie ging da hin, tagein, tagaus. Und schon in der ersten Woche fing sie selbst an, zu husten und hatte mit den Auswirkungen des Schimmels in den Wohnungen zu kämpfen. 

Aber aus diesen Anstrengungen heraus entwickelte sie mit den Mieter*innen Forderungen und sie zwangen den Vermieter im Grunde genommen alle Forderungen zu akzeptieren, die Wohnungen zu sanieren und die Lebensbedingungen für diese Mieter*innen dramatisch zu verbessern. 

Das ist ein Beispiel einer Kampagne, sich zu verankern, Vertrauen und die Stärke der Arbeiterklasse in den Communities aufzubauen. Das braucht Zeit, aber man braucht solche Wurzeln um gegen die Medienkonzerne, gegen die Tories – die konservative Partei – zu bestehen und den Widerstand zu überwinden, mit dem man es zu tun bekommt, wenn man ein sozialistisches Programm vorschlägt.  

Von außen, von außerhalb Großbritanniens betrachtet, erschien es so, dass es den Aktivist*innen in Momentum nicht möglich war, sich ihre Organisation zu eigen zu machen, sie von unten nach oben aufzubauen und ihren Kurs zu bestimmen. Bin ich da zu harsch mit meinem Urteil?

Der Einfluss neuer Mitglieder auf die nationale Strategie von Momentum war etwas begrenzt, das stimmt. Die Situation in verschiedenen lokalen Organisationen von Momentum unterschieden sich sehr stark von Ort zu Ort. Lokale Organisationen bekamen nicht viel Hilfe von der nationalen Organisation, nicht genug Hilfe. Und lokale Organisationen mussten selbst ihre benötigten Gelder sammeln. 

Die lokalen Leiter*innen waren oft etwas älter und etwas weißer als die Mehrheit der Leute, die in Momentum strömten. Der Fokus war weniger darauf aus, den Beitrag von Aktivist*innen aus der Umweltbewegung oder der Anti-Rassismus-Bewegung oder von jüngeren Leuten wahrzunehmen. Die Dinge waren nicht ideal. Ich hoffe, wir können manche dieser Herausforderungen in der Zukunft überwinden. 

Was sind Deine Hoffnungen für die kommende Zeit? 

Meine größten Hoffnungen liegen auf der Organisierung der Communities, auf der Bewegung für einen Green New Deal, ein grünes Investitionsprogramm gegen den Klimawandel, und auf der Black-Lives-Matter-Bewegung. Können wir uns in den Communities der People of Colour oder unter jungen Leuten verankern? Können wir mehr Leute politisch ausbilden, um in der Lage zu sein, aufzustehen, ihre Stimme zu erheben und zu organisieren, nicht nur zu mobilisieren? Wenn wir das erreichen können, dann werden wir die aktuellen Schwierigkeiten überwinden.  

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