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Ende der Corbyn-Bewegung: »Jugendliche angetrieben von einem Glauben an Fairness«

Ein Interview mit Dave Hill, einem revolutionären Sozialisten in der Labour Party in den 1980er Jahren, der im Verlauf der Corbyn-Bewegung erneut in Labour aktiv wurde

Dieser Artikel erschien in Lernen im Kampf Nr. 6. Unterstütze uns und abonniere unser Magazin.

Dave Hill lebt in Brighton und ist Mitglied des Leitung der Labour Left Alliance. Er ist ein revolutionärer Marxist und Mitglied der Vierten Internationale. Mit 16 Jahren trat er der Labour Party bei und wurde später Ratsmitglied des Brighton Borough Stadtrats und anschließend des East Sussex County Rats als Vorsitzender der Labour Councilors. Er verließ die Partei 2005, nachdem »New Labour« unter Blair den Irakkrieg und die Privatisierungen unterstützt hatte. Er kehrte 2015 zu Labour zurück, um die Corbyn-Bewegung bei ihrem Versuch zu unterstützen, die Partei zu transformieren. Dazwischen kandidierte Dave außerhalb von Labour als Kandidat für TUSC, die Trade Unionist and Socialist Coalition, in Brighton bei den allgemeinen Wahlen 2010 und 2015. Er ist ein lebenslanger Gewerkschaftsaktivist, unter anderem war er ein Jahrzehnt lang Vertrauensmann an einer Universität. Er arbeitete als Professor an verschiedenen Universitäten in Chelmsford, London und Athen.

Kannst Du uns zunächst die Situation beschreiben, in der Corbyn gewählt wurde? Auf der einen Seite strömten damals Hunderttausende hauptsächlich junge Menschen in die Labour Party. Auf der anderen Seite war ihre aktive Teilnahme in der Partei etwas begrenzt. Könnte man den Aufschwung der Labour Party und bei Momentum als »Internet-Phänomen« bezeichnen? Handelte es sich eher um ein internetbasiertes, lockeres Engagement, aber ohne reale Organisierung?

So würde ich das nicht sagen. Als Corbyn zum ersten Mal [als Parteivorsitzender] antrat, traten Hunderttausende neuer Mitglieder ein. Labour wurde die größte politische Partei in Westeuropa. Es gab sehr große Momentum-Treffen voller junger Leute – und in Momentum wurde viel organisiert. Im Jahr 2015 war die Situation reif für eine große Begeisterung für Corbyn und insbesondere für das linkssozialdemokratische – für Großbritannien sehr radikale – Wahlprogramm (»Manifesto«) von 2017. Viele der neuen Mitglieder wurden aktiv und zogen von Tür zu Tür: Niemals haben wir so viele Dutzende oder Hunderte auftauchen sehen wie bei diesen Parlamentswahlen in den Jahren 2015 und 2017.

Heutzutage haben die meisten Jugendlichen einen grundlegenden Antisexismus, Antirassismus und ein Umweltbewusstsein sowie einen starken Glauben an Fairness. Darüber hinaus ist es dann, wie Marx im Kommunistischen Manifest sagte, die wichtigste Aufgabe, die wir als Kommunisten haben, das Klassenbewusstsein zu entwickeln. Das bedeutet, eine Klassenanalyse darüber zu entwickeln, was passiert, was passiert ist und was passieren sollte. Im Gegensatz dazu beschränkte sich Momentum ziemlich (wenn auch nicht vollständig) auf den Wahlkampf und bot nicht viel politische Bildung an, wie es hätte sein sollen.

Seitdem ist diese Masse an jungen Menschen wieder verschwunden, teilweise aufgrund des Einflusses der Medien – zum Beispiel der BBC und Sky News. Die Massenmedien waren seit Corbyns Wahl zum Labourführer im Jahr 2015 absolut unerbittlich, wurden persönlich, waren natürlich rechts und beschrieben Corbyn und Momentum als »verrückte Linke«. Momentum bot eine gewisse politische Ausbildung an, aber nicht genug. Dafür kritisiere ich Jon Lansman und die Führung von Momentum. Ich denke, das war ein großer Fehler.

Die Massenbegeisterung hielt nicht bis 2019 an.

Von außen sah es so aus, als traute sich Momentum nicht, die eigenen Strukturen für Demokratie, für neue Menschen, für neue Aktivist*innen zu öffnen, ihnen Verantwortung zu überlassen. Ist es fair von einer Top-Down-Organisation zu sprechen?

Ja, das ist eine sehr gute Beschreibung. Momentum ist ein privates Unternehmen von Jon Lansman. Es ist keine demokratische Organisation, sondern weit davon entfernt.

Ich bin Mitglied von Momentum. Relativ früh wählten wir regionale Vertretungen in Momentum, aber daraus wurde nichts. Meine Gruppe, die Labour Left Alliance zusammen mit unabhängigen Marxist*innen und einer großen Anzahl linker Sozialdemokrat*innen innerhalb der Labour Party, protestierte stark gegen den Mangel an demokratischer Kontrolle in Momentum.

Die Leute fühlten, dass sie nicht viel zu sagen hatten. Wir wurden zu Versammlungen eingeladen, sehr guten Versammlungen. Wir hatten wirklich große Treffen und wir waren erfolgreich dabei, Leute zu den Urnen zu bringen. Aber wer hat die Treffen organisiert? Es gab keine demokratische Einbeziehung.

Und Momentum selbst ist politisch sehr breit aufgestellt. Einige der Menschen sind keine Sozialist*innen, andere könnten sogar Blair-Unterstützer*innen sein. Hätte es demokratische Strukturen gegeben, wäre dies möglicherweise kein Problem gewesen. Wir hätten Momentum nach links bewegen können.

Viele Momentum-Mitglieder setzen sich für sehr lohnende soziale Bewegungen wie ACORN ein, die gegen die Zwangsräumungen von Mieter*innen kämpft. Sie leisten gute Arbeit, interessieren sich aber nicht für Treffen der Labour Party. Natürlich hilft es nicht, dass die Treffen der Labour Party oft sehr bürokratisch sind.

Die Medien waren unerbittlich

Vor kurzem gab es Wahlen für den landesweiten Vorstand von Momentum und es gab zwei große Listenvorschläge. Einer nannte sich Forward Momentum; der war radikal, und ich habe für deren Kandidat*innen gestimmt. Der andere hieß Momentum Renewal; das sind Leute aus dem politischen Zentrum. Forward Momentum hat die Wahlen gewonnen und sie sind jetzt in der Führung.

Hast Du Hoffnung, dass das eine Wende zu einer radikaleren, demokratischeren Politik einleiten könnte?

Das ist nicht völlig ausgemacht, aber meinem Verständnis nach, ja. Im Moment stecke ich nicht viel Mühe und Energie in Momentum, aber ich weiß, dass es in Momentum viele gute Genoss*innen gibt.

Warum hat Corbyn verloren?

Zum einen wegen der Macht der nationalen und internationalen kapitalistischen Klassen, besonders der nationalen, und, um eine Formulierung von Louis Althusser zu nutzen ihrer ideologischen Staatsapparate.

Dann waren da die Medien, die waren unerbittlich. Ich war seit meinem 16. Lebensjahr ein Leser des liberalen, linken Guardian. Ich habe 2015 aufgehört, ihn zu lesen. Corbyn war eine solche Bedrohung, dass der Guardian in seiner Dämonisierung und seinem Hass absolut bösartig wurde. Aber die Rolle der Medien sollten wir auch nicht  übertreiben, denn die meisten jungen Leute lesen gar keine Zeitungen. Trotzdem, in jeder Straße, die man entlang ging, gab es die Schlagzeilen: »Corbyn versagt schon wieder.«

Dann ist da noch die Macht der Kapitalistenklasse innerhalb der Labour Party. Nicht nur die Blair-Unterstützer*innen, sondern auch die Sozialdemokrat*innen, die an den Kapitalismus glauben. Ich meine linke Sozialdemokrat*innen. Sollte ich Corbyn da mit einbeziehen? Sozialdemokrat*innen wollen den Kapitalismus nicht ersetzen, sondern ihn schöner, hübscher und gerechter machen. Corbyn war nicht nur schwach, wenn er mit Widerstand konfrontiert wurde, sondern er forcierte Sozialismus nicht.

Wahrscheinlich noch wichtiger war die Tatsache, dass die Parlamentsfraktion der Labour Party, abgesehen von etwa 20 oder 30 Labour-Abgeordneten, lieber eine konservative Regierung oder eine Koalitionsregierung oder eine Regierung a la Blair gehabt hätte, so stark war ihr Hass auf Corbyn – und auf Sozialismus.

Ich kann einen weiteren Grund nennen, nämlich das Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und das politische Bewusstsein der Arbeiterklasse, den Zustand der Institutionen und Organisationen der Arbeiterklasse. Das spielte eine wichtige Rolle.

Ich habe es so verstanden, dass die Glaubwürdigkeit der Labour Party unter Corbyn durch die Tatsache untergraben wurde, dass die örtlichen Labour Stadträte die von der Tory-Regierung verordneten Kürzungen umsetzten.

Absolut. Und worauf ich in meiner Laufbahn mit am stolzesten bin, ist, dass ich Mitte der 1980er Jahre Vorsitzender der Labour-Gruppe im Stadtrat von East Sussex war und wir einer der letzten drei Stadträte waren, die sich für eine Politik der Haushaltsdefizite aussprachen. Mit anderen Worten, wir verfolgten eine Politik, bei der keinerlei Kürzungen vorgenommen wurden. Die anderen beiden Stadträte waren Lambeth – angeführt von Ted Knight, der vor kurzem gestorben ist – und natürlich Liverpool, das von Militant (dem Vorgänger der Sozialistischen Partei von England und Wales) angeführt wurde, geleitet von Tony Mulhearn, der leider auch vor kurzem gestorben ist. Diese »Defizit-Haushalt«-Kampagnen waren für mich inspirierende Klassenpolitik.

Also vor all den Jahren als ich die Labour-Stadtratsfraktion leitete, zitierte mich der Jurist des Stadtrats zu sich, um mich vor dieser Art von Politik zu warnen. Und um ehrlich zu sein, dachte ich, f*** you! Sie handeln im Auftrag des Tory-Stadtrats, ich handle im Auftrag der Arbeiterklasse.

Um zu der heutigen Situation zurück zu kehren: Du hast absolut recht. Die mangelnde Begeisterung für Labour spiegelt sich darin wider, dass Labour Stimmen verloren hat, auch 2019 im Vergleich zu 2017, weil so viele von Labour geführte Stadträte nur Tory-Politik betreiben. Und es ist schrecklich; Gemeinderäte in England und Wales haben etwa 50 Prozent ihres Budgets verloren. Zum Beispiel hatten wir früher Jugendklubs. Jetzt sind kaum noch welche übrig. Früher hatten wir gute Bibliotheken. Viele Bibliotheken wurden geschlossen. Das Problem ist, dass so viele Labour-Stadträt*innen einfach nur die Kürzungen durchführen. Viele tun das wegen ihrer Karriere, andere, weil sie »gesetzestreu« sind. Sie sollten stattdessen lokale und landesweite Massendemonstrationen gegen die Kürzungen organisieren und anführen.

Wenn ich Leute in Momentum danach frage, höre ich, dass die Stadträt*innen nicht viel Alternativen hätten. Und wenn ich sie frage, warum es keine Option sei, sich zu wehren wie in Liverpool, dann wissen die Genoss*innen nicht, wovon ich spreche. Gibt es da einen Bruch an Überlieferung von Geschichte, einen Riss in der Erinnerung an Kämpfe der Arbeiterklasse?

Ja, wir müssen die Dinge neu lernen. Die Jungen müssen die Geschichte der Kämpfe, Erfolge und Misserfolge lernen. Ich meine, alte Leute, wie ich, wir haben es in den sechziger, siebziger und achtziger Jahren gesehen. Aber es gibt diesen Mangel an historischem Wissen und natürlich sind die Medien nicht daran interessiert, die Geschichte der Arbeiterklasse zu diskutieren. 

Es war ein riesengroßer Fehler, nicht auf obligatorische Neuwahlen [der Abgeordneten] zu drängen

Generell bin ich sehr zufrieden damit, dass all die linken Gruppen und ihre Online- sowie Printpräsenz eine Wirkung erzielen, dem Socialist, dem Socialist Worker, dem Weekly Worker, Socialist Resistance, International Viewpoint.

Ich erinnere mich, wie ich als Teenager solche Lektüre aufgegabelt habe. Ich erinnere mich, wie ich an der U-Bahnstation Tottenham Court Road sozialistische Literatur mitgenommen habe. Und nachdem ich diese Literatur 60 Jahre lang gelesen habe – ich werde bald 75 Jahre alt -, möchte ich würdigen, was ich der schulde.

Ich möchte hier etwas solidarische Kritik üben an den zwei größten marxistischen Parteien in England und Wales, die SP (Socalist Party) und die SWP, die Socialist Workers Party –  aber dann sage ich hinterher auch etwas zu ihren Gunsten.

Ich bin grundsätzlich sehr anti-sektiererisch. Ich bin gegen Sektierertum. Dies ist der Grund, warum ich mich Socialist Resistance angeschlossen habe, einer winzigen hundertköpfigen Organisation, der Vierten Internationale in England. Eigentlich stimme ich ihnen in vielen Fragen nicht zu – sie sind zu reformistisch für mich. Aber sie haben eine mandelistische Perspektive, was bedeutet, Minderheitenpositionen innerhalb der Organisation und öffentlich zu akzeptieren und tatsächlich zu fördern. Das passiert in der Praxis nicht immer, aber zum Beispiel bin ich innerhalb der Vierten Internationale in der linken Opposition: Ich unterstütze OKDE-Spartakos in Griechenland und bin Mitglied von OKDE-Spartakos. Sie sind die Vierte Internationale in Griechenland und sie sind revolutionäre Sozialist*innen. Ich habe mit ihnen und der breiteren Koalition, zu der sie gehören – Antarsya – durch Tränengas auf dem Syntagma-Platz in Athen hindurch demonstriert. Ich habe in den letzten zehn Jahren zwei- oder dreimal im Jahr in Griechenland gearbeitet. Ich habe dort ein Semester unterrichtet.

Ich bin sehr gegen Sektierertum und anti-sektiererisch, weshalb ich Probleme mit der SP und der SWP habe. Deshalb habe ich viel mehr mit Leuten wie Paul Murphy und RISE in Irland gemeinsam. Ich denke, wir müssen mit anderen Gruppen zusammenarbeiten, ohne sie zu dominieren, und ich bin der Ansicht, dass die SP und die SWP versuchen, wenn sie sich an Koalitionen beteiligen, genau das zu tun, um sie als vorrangiges Ziel für ihren eigenen Parteiaufbau zu nutzen. Ich war kurze Zeit in der United Left Alliance (ULA) in Irland. Ich habe in Irland gearbeitet, in Limerick. Ich war ein Einzelmitglied der United Left Alliance. In England unterstützte ich nach 2000 die Socialist Alliance, ich war in Respekt und dann in der Trade Unionist and Socialist Coalition (TUSC). Sie alle scheiterten und brachen aufgrund der internen Rivalität zwischen SWP und SP zusammen, ebenso wie die ULA in Irland. Die SP und die SWP achten eher darauf, was für sie gut ist, als was für die breitere Bewegung gut ist.

Jetzt möchte ich etwas zugunsten der SWP und der SP sagen. Ich kritisiere sie ständig für ihren top-down ausgeführten demokratischen Zentralismus und ihr Sektierertum. Ich habe jedoch in den letzten 20 Jahren viel gelernt. Ich habe mit Genoss*innen in der SP gearbeitet, ich habe mit Genoss*innen in der SWP gearbeitet. Wir haben zusammen Hausbesuche gemacht. Wir haben zusammen demonstriert. Sie sind gute Genoss*innen, wirklich gute Klassenkämpfer. Und so habe ich viele gute Freund*innen und sehr gute Genoss*innen in der SP und in der SWP.

Ich bin mit der Orientierung der Parteien nicht einverstanden, weil ich denke, dass wir eine Einheitsfront brauchen, in der verschiedene Parteien ihr eigenes Programm beibehalten, aber eher nach dem hauptsächlichen Anliegen als nach ihrer eigenen Rolle innerhalb dieses Anliegens Ausschau halten. Ich habe viel mit Socialist Alternative gemeinsam, der größten Abspaltung von der SP in meiner Stadt.

Mit dem Blick von außerhalb Großbritanniens auf die Ereignisse sah es so aus, als hätten die SWP und die SP sowie Counterfire die Corbyn-Bewegung von außen kommentiert, sich aber nicht wirklich engagiert und sich nicht dem Kampf angeschlossen. Sie sind der Labour Party nicht beigetreten, sie haben nicht an den Treffen teilgenommen, über die Sie gesprochen haben. Ist das eine faire Darstellung?

Sie hatten eine symbolische Vertretung. Sie haben Leute zu Treffen schicken. Ein oder zwei führende Mitglieder der SWP in Brighton kamen zu Momentum-Treffen. Aber sie haben ihrer Mitgliedschaft nicht geschickt oder generell dazu aufgefordert.

Counterfire ist auf nationaler Ebene sehr gut und sehr effektiv. Ich bekomme zum Beispiel jeden Tag den Counterfire-Newsletter. Sie veranstalten lebhafte öffentliche Veranstaltungen. Sie ziehen jüngere Menschen unterschiedlicher ethnischer Gruppen an, und die Veranstaltungen, an denen ich teilgenommen habe, waren gut besucht und sehr dynamisch. Das kann man so nicht über die SP oder die SWP sagen. Die SWP ist wahrscheinlich eher studentisch, während die SP viel gewerkschaftlicher, arbeiterorientierter und fokussierter ist und sich mehr auf die Labour Party konzentriert. Alle zusammen haben in Großbritannien wahrscheinlich rund 4.000 Aktivist*innen.

Counterfire ist etwas dynamischer. Aber sie haben keine Treffen, nur öffentliche Veranstaltungen. Ich habe mich mit ein paar ihrer führenden Mitglieder zusammengesetzt und gefragt, seid ihr eine Partei? Und es gab keine klare Antwort. Sie haben keine Mitglieder, sondern nur Unterstützer*innen. Vielleicht spreche ich hier mit einem gewissen Maß an Ignoranz, aber zumindest haben die SWP und die SP Ortsgruppen.

Corbyn und Momentum setzen sich nicht für obligatorische Neuwahlen, »mandatory reselection«, ein, was vorgeschrieben hätte, dass sich auch bereits gewählte Labour-Abgeordnete einer parteiinternen Wahl hätten stellen müssen. Der Verzicht darauf beließ die Parlamentsfraktion der Labour Party in den Händen des rechten Flügels, ohne ihn grundlegend herauszufordern. Leo Panitch und Sam Gindin schreiben in einem Buch, »The Socialist Challenge Today«, das in der DSA in den USA ausführlich diskutiert wurde:

»Die taktische Vorsicht von Momentum, nicht in eine mediengetriebene Hysterie über die ›Neuwahl‹ aller gewählten Abgeordneten verwickelt zu werden, wie dies bei den Reformbemühungen der CLPD [= Campaign for Labour Party Democracy] in den 1970er Jahren der Fall war, hat sie nicht davon abgehalten, Unterstützung zu gewinnen in den Ortsvereinen und unter Konferenzdelegierten für konkrete Vorschläge für einen ›demokratischen Auswahlprozess für das 21. Jahrhundert‹ oder für die Nominierung vieler von Momentum unterstützter Kandidat*innen, sowohl auf Parlaments- als auch auf kommunaler Ebene.«

Gindin und Panitch stimmen also mit Momentum überein, angesichts der Erfahrungen der 1970er Jahre aus der Kampagne für Demokratie in Labour (CLPD), nicht für eine obligatorische Neuwahl einzutreten. Du warst dort und hast die Entwicklungen damals und heute verfolgt. Was hältst Du von dieser Frage der obligatorischen Neuwahlen?

Eine sehr interessante Frage, denn ich denke, dass die CLPD und verschiedene linke Gruppen in der Partei, insbesondere Militant, in den 1970er und ’80er Jahren eine viel stärkere Haltung gegenüber der obligatorischen Neuwahl einnahmen. In den siebziger Jahren gab es dabei einige Erfolge. Ich stimme der Analyse zu, die Du gerade vorgelegt hast, und kritisiere Momentum da. Es war ein riesengroßer Fehler, nicht auf obligatorische Neuwahlen zu drängen, sowohl für Stadtratsmitglieder als auch für Abgeordnete. 

Es gab einige Erfolge, einige sehr linke, sozialistische neue Abgeordnete, die 2019 ausgewählt und gewählt wurden – wie Zarah Sultana.

Wie hast Du diese Kämpfe innerhalb der Labour Party in den 1970er Jahren erlebt?

Ich war nicht immer Marxist. Tatsächlich war ich bis etwa 1981/82 eine Art linker Unterstützer des  Tribune-Magazins. Was hat mich dazu gebracht, meine Position als  Tribune-Unterstützer zu verändern? Der Marxismus hat mich immer interessiert. Aber was mich von der Position des Tribune hin zu einem Marxisten verändert hat, waren zwei Dinge.

Der erste war Thatcher. Ich dachte: »Wenn sie das für ihre Klasse tun kann, wenn sie im Auftrag ihrer Klasse handeln kann, warum kann die Labour Party dann nicht im Auftrag meiner Klasse handeln?« Thatcher, die Privatisierungen … alles begann 1979. Ich war in Armut aufgewachsen, hatte kostenlose Schulmahlzeiten, kommunale Gutscheine für Kleidung erhalten – das führte zu einem lebenslangen Bewusstsein und Hass auf wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten.

Das zweite, was mich zu einem Marxisten machte, war meine Erfahrung als Vorsitzender einer Gruppe von 19 Labour-Stadträt*innen in East Sussex. Zwei der Ratsmitglieder waren Marxist*innen, Mitglieder von Militant, dem Vorläufer der Socialist Party. Und mir wurde ziemlich schnell klar, dass sie die beiden waren, die die klassenbewussteste und klassen-reflektierteste Politik hatten.

Das Lesen von Militant, der Wochenzeitung, und von Broschüren von Militant und anderen Marxist*innen seit den sechziger Jahren – und die Arbeit mit Militant-Genoss*innen in der Ratskammer und bei Demonstrationen – im Zusammenwirken mit Thatchers ungewöhnlich blanker Klassenpolitik – das machte mich zu einem Marxisten.

Schauen wir noch mal auf die heutige Situation. Len McClusky, Vorsitzender der Gewerkschaft Unite, der größten Gewerkschaft in der Privatwirtschaft in Großbritannien, argumentiert, dass Keir Starmer mit einem Programm zur Fortsetzung des Corbynismus gewählt wurde und sagt, dass er »ihn dafür zur Rechenschaft ziehen wird«. Jeremy Corbyn wurde in einem Interview mit dem Tribune-Podcast gefragt: »Wenn Du eine Bitte an Keir Starmer richten könntest und garantiert bekommst, dass diese erfüllt wird, welche wäre das?« Corbyn antwortete: »Stell sicher, dass unsere Partei immer stolz darauf ist, eine sozialistische Partei zu sein.« Für mich klingt das nach Selbstbetrug. Bin ich hier zu scharf?

Als Du mir diese beiden Aussagen vorgelesen hast, wollte ich ein traditionelles angelsächsisches Wort verwenden. Bollocks [ungefähr: Blödsinn]. 

Ich denke, Corbyn hat kürzlich einige Male Kritik an Starmer geäußert, insbesondere angesichts des durchgesickerten Berichts über die Aktivitäten der Bürokratie der Labour Party mit ihrer Sabotage von Corbyn, insbesondere bei den allgemeinen Wahlen 2019.

Aber diese Aussagen finde ich lächerlich. Es ist lächerlich, sich vorzustellen, dass Starmer die Partei Richtung Sozialismus führen werde, anstatt weg davon. Seit seiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden hat er wiederholt gezeigt, dass er eine sichere Bank für das Kapital ist, und die Labour Party erneut »das Reserveteam der Kapitalistenklasse«. Die Ermittlungen,  Suspendierungen und Vertreibungen von guten sozialistischen und marxistischen Genoss*innen aus der Labour Party unter falschen und fadenscheinigen Gründen des angeblichen Antisemitismus schreiten zügig voran. Ich bin absolut erstaunt, dass ich noch nicht ausgeschlossen wurde, zum Beispiel wegen meiner Unterstützung der Palästina-Solidaritätskampagne über soziale Medien. Ein Großteil der zehnköpfigen lokalen Organisationsgruppe der Labour Left Alliance in meiner Stadt wurde suspendiert oder aus der Partei ausgeschlossen.

Wie geht es weiter? Mike Wayne schrieb in Counterfire: „Hier ist eine kollektive Fantasie, die viele Menschen gerade haben […]: Jeremy Corbyn führt eine kleine Phalanx linker Labour-Abgeordneter aus Labour heraus und arbeitet an der Bildung einer neuen Party. Diese neue Partei würde sehr schnell eine Massenmitgliedschaft von Hunderttausenden anziehen.« Das ist nichts weiter als ein Traum, oder?

Ich lese jeden Tag Counterfire und stimme dir zu. Es ist nur ein Traum. Ein wunderbarer Traum. Aber eine Täuschung. Die Wahrscheinlichkeit ist nur winzig. 

Ein Problem für die Linke in Labour und die Linke außerhalb von Labour ist, dass es links von der Labour Party ziemlich voll ist, mit vielen Organisationen, die gegeneinander kämpfen werden.

Deshalb bin ich vorerst in der Labour Left Alliance. Wir organisieren uns sowohl innerhalb als auch außerhalb von Labour. Wir müssen uns im Moment weiterhin an Labour orientieren, denn zu diesem Zeitpunkt und möglicherweise für eine lange Zeit ist dort der Großteil der sozialistischen Teile der Arbeiterklasse. Ich denke, es gibt wahrscheinlich hunderttausend Menschen, die die Labour Party seit Corbyns Abgang als Vorsitzender verlassen haben. Ich denke, noch ein- oder zweihunderttausend werden gehen. Meine Analyse ist, dass die Labour Party zu dem zurückkehren wird, was sie in fast ihrer gesamten Geschichte war, eine Partei fest im Griff der Rechten.

In zwei Jahren könnte es dort keine Sozialist*innen mehr geben. Aber im Moment versuchen wir, diejenigen innerhalb der Labour Party und die Sozialist*innen und Kommunist*innen außerhalb in einer wirklich demokratischen Organisation zusammenzubringen. Parteiinterne Demokratie und Transparenz sind ein wesentliches Merkmal der LLA. Das sollte auch für die Labour Party gelten. Wir Marxist*innen, die immer noch in der Labour Party sind, kämpfen für parteiinterne Demokratie, kämpfen für Corbyn-artige – linkssozialdemokratische – Politik, aber um sie im Sinne des Übergangsprogramms nach links zu bewegen; wir setzen aber Betonung, Energie und Aktivismus auf die außerparlamentarische, nicht-wahlpolitische Arbeit, darauf, linke Sozialdemokrat*innen innerhalb und außerhalb der Labour Party zum Sozialismus zu gewinnen und eine Klassenanalyse und Klassenbewusstsein zu entwickeln. 

Aber Counterfire hat recht, es ist verdammt noch mal nicht Starmer, der eine sozialistische Revolution anführen wird. Und auch nicht die Labour Party.  

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