Die Tarifauseinandersetzung ist nur als politischer Konflikt gewinnbar. Klinikbeschäftigte mit besonderer Rolle.

Von David Matrai, Hannover
David Matrai ist Gewerkschaftssekretär im ver.di-Landesbezirk Niedersachsen-Bremen
Unter dem Eindruck der Corona-Pandemie stellt sich seit Monaten innerhalb von ver.di die Frage, wie mit der diesjährigen Tarifrunde des öffentlichen Dienstes umzugehen sei. Die ver.di-Spitze entwarf zunächst mehrere mögliche Szenarien und ließ diese von den Funktionär*innen diskutieren. Im Zwischenergebnis wurde mehrheitlich ein sogenannter Kurzläufer befürwortet: eine Tarifeinigung im Herbst mit kurzer Laufzeit und einem finanziellen Ausgleich etwa über eine Einmalzahlung. So sollte früh im kommenden Jahr eine erneute Tarifrunde durchgeführt werden, unter hoffentlich günstigeren Vorzeichen.
Die kommunalen Arbeitgeber hat dieses weitgehende Kompromissangebot nicht besänftigt, sondern offenbar ermutigt. Sie lehnten den Vorschlag ab und machten deutlich, dass sie keinesfalls zu einem einvernehmlichen Vorgehen zur Überbrückung der Pandemie bereit sind. Ganz im Gegenteil: Sie wollen es auf eine Machtprobe ankommen lassen – Corona hin, Corona her. Mangelndes Klassenbewusstsein lässt sich der Arbeitgeberseite jedenfalls nicht nachsagen.
»Wir sind systemrelevant«
Seitdem ist von einer regulären Tarifrunde die Rede, die allerdings unter deutlich anderen Vorzeichen stattfindet. In die Kommunalhaushalte wurden Löcher gerissen, die einzelnen Branchen sind von den Auswirkungen der Pandemie – unterschiedlich – gezeichnet. Viele Beschäftigte stehen unter dem Eindruck der Ereignisse, teils verbunden mit Kurzarbeit, Homeoffice und Sorgen um die eigene Gesundheit. Die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) und ihr sozialdemokratischer Verhandlungsführer, Lüneburgs Oberbürgermeister Ulrich Mägde, nutzen das und fordern »einen Tarifabschluss, der in diese besondere Zeit passt«. Gemeint ist ein Vertrag mit langer Laufzeit und ohne Lohnerhöhungen.
Gleichzeitig gab es selten einen derart großen Zuspruch für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst bzw. bei Arbeitgebern, die den Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes anwenden.
Es besteht weniger denn je Grund für falsche Bescheidenheit
Viele erkennen an, welch wertvolle Tätigkeit Beschäftigten etwa im Nahverkehr, bei der Energieversorgung, der Müllabfuhr, in den Gesundheitsämtern, in den Kitas oder in der Behindertenhilfe leisten. Insbesondere für die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in der Pflege wurde lautstark applaudiert. Unter dem Motto »Wir sind systemrelevant« führte ver.di Aktionen mit und für Krankenhausbeschäftigte durch und konnte unter erschwerten Bedingungen immerhin betrieblich sichtbar bleiben und kollektive Handlungsfähigkeit demonstrieren.
Wer zahlt für die Krise?
Dieser öffentliche Zuspruch und das mittlerweile geflügelte Wort der »systemrelevanten« Beschäftigten eröffnet der Gewerkschaft Möglichkeiten. In Tarifauseinandersetzungen des öffentlichen Dienstes ist die gesellschaftliche Stimmung stets ein wichtiger Faktor. ver.di kann gezielt an den Applaus auf den Balkonen anknüpfen und eine Aufwertung jenseits von Symbolpolitik einfordern. Es besteht weniger denn je Grund für falsche Bescheidenheit und ver.di sollte nun vielmehr auf reale, spürbare Verbesserungen drängen.
Es geht dabei auch um die politische Frage, ob die lohnabhängig Beschäftigten – also diejenigen, die den Laden am Laufen halten – mehrfach für die Krise zur Kasse gebeten werden, nachdem Steuermilliarden für die Stabilisierung und Entlastung von Unternehmen mobilisiert wurden. Vor diesem Hintergrund sind auch klamme Kommunalhaushalte kein Grund für Zurückhaltung. Es ist schlicht eine Frage des politischen Willens, besser: des gesellschaftlichen Kräfteverhältnisses, ob die Politik die nötigen Haushaltsmittel organisiert und die Kommunen entsprechend finanziell ausstattet – oder nicht. In dieser Hinsicht muss ver.di die Tarifrunde sogar politisch anlegen, um dem vermeintlichen Argument leerer Kassen offensiv zu begegnen.
Substanzielle Verbesserungen werden nur mit Arbeitskämpfen zu erreichen sein
Im Übrigen ist nicht davon auszugehen, dass sich die Ausgangsbedingungen für Tarifauseinandersetzungen im öffentlichen Dienst in den nächsten ein oder zwei Jahren grundlegend verbessern. Jetzt in die Defensive zu gehen, würde Probleme also nicht lösen, sondern verschieben und vergrößern.
Eine Frage der Glaubwürdigkeit
Die Stimmung und die Interessenlage unter den betroffenen Beschäftigten sind uneinheitlich. Es wird Kolleginnen und Kollegen geben, die zu allererst Sorge um den Fortbestand ihres Betriebes, um ihre Gesundheit oder vor einer zweiten Corona-Welle haben. Es gibt aber auch Beschäftigte, die – dennoch oder gerade deshalb – klare Erwartungen an das Ergebnis der Tarifverhandlungen und an ihre Gewerkschaft haben.
Wer während der Pandemie Aktionen für grundlegende Verbesserungen durchführt, wie wir es zu Recht in den Krankenhäusern getan haben, sollte diese Forderungen nicht bei erstbester Gelegenheit unerkennbar zurechtstutzen. Es ist daher gut, dass sich die
ver.di-Bundestarifkommission (BTK) dafür entschieden hat, Verbesserungen für das Gesundheitswesen an einem eigenen Verhandlungstisch einzufordern. Hier Ergebnisse zu erzielen, ist für die Gewerkschaft auch eine Frage der Glaubwürdigkeit.
Jetzt kommt es auf die Aktions- und Streikbereitschaft der Beschäftigten an. Substanzielle Verbesserungen werden nur mit Arbeitskämpfen zu erreichen sein. Was eine systematische Beteiligung und Mobilisierung bewirken kann, hat sich in den Wochen vor der BTK-Entscheidung am 25. August in den Gesundheitseinrichtungen gezeigt.
Binnen weniger Wochen nahmen 800 Kolleg*innen an Onlinekonferenzen teil, 25.766 Gespräche mit Klinikbeschäftigten zu ihren Forderungen und ihrem Engagement wurden geführt.
1.593 meldeten sich als »Tarifbotschafter*innen«, die bei der Verbreitung von Informationen und der Vorbereitung von Aktionen eine wichtige Rolle spielen sollen.
Das zeigt: Viele Beschäftigte sind bereit, sich für ihre gemeinsamen Interessen einzusetzen – wenn sie gezielt angesprochen und ernsthaft an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden.
Die Tarifforderungen der Gewerkschaften
- Anhebung der Einkommen um 4,8 Prozent bzw. einen Mindestbetrag von 150 Euro monatlich bei einer Laufzeit von zwölf Monaten.
- Die Ausbildungsvergütungen und Praktikantenentgelte sollen um 100 Euro monatlich steigen und die Auszubildenden sollen übernommen werden.
- Die Arbeitszeit in Ostdeutschland soll um eine Stunde auf die im Westen geltende 39-Stunden-Woche reduziert werden.
- An einem eigenen Verhandlungstisch sollen Verbesserungen im Gesundheitswesen und in der Pflege thematisiert werden.
- Die bestehenden Regelungen zur Altersteilzeit sollen verbessert und verlängert werden.
- Zusätzliche freie Tage zur Entlastung der Beschäftigten.