»Mangelnde Bereitschaft sich mit der politischen Gegenwart auseinanderzusetzen«
von Aron Amm, Berlin
Aron Amm veröffentlichte 2018 den Roman »Moribund«. Er war lange Jahre verantwortlicher Redakteur der »Solidarität – Sozialistische Zeitung«.
[Dieser Aritkel ist Teil unseres Magazins, „Lernen im Kampf“, Nr. 5]
Vom 20. Februar bis zum 1. März fanden die 70. Berliner Filmfestspiele statt. Vor Beginn kritisierte der neue künstlerische Direktor des Festivals Carlo Chatrian den deutschen Film für die mangelnde Bereitschaft, sich mit der politischen Gegenwart auseinanderzusetzen.
Gerade Burhan Qurbanis Neuverfilmung von »Berlin Alexanderplatz« enttäuschte. Beschränkte sie sich doch darauf, die Handlung (aktualisierend) nachzuerzählen. Während sie für Alfred Döblin nur ein Mittel war, das gesellschaftliche Fieber und die zunehmende Polarisierung zwischen Links und Rechts in der Weimarer Republik Ende der zwanziger Jahre einzufangen.
Es wäre schon viel gewonnen, wenn sich mehr Filmemacher*innen der Jetztzeit stellen würden. Allerdings erzielt man noch keine politische Wirkung, wenn man bloß den Anspruch auf Politik erhebt, wie der ostdeutsche Regisseur Konrad Wolf (»Ich war neunzehn«) meinte. Konrad Wolf pochte auf die Gleichzeitigkeit von Politischem und Poetischem in der Kunst (»Konrad Wolf im Dialog«, Dietz Verlag, 1985). Trenne man Politik und Poesie, landete man bei »Didaktischem« auf der einen und »Bauchnabelästhetik« auf der anderen Seite.
Zwei Filmen, denen auf der diesjährigen Berlinale genau das gelang, was Wolf vor dreißig Jahren forderte, waren der iranische Wettbewerbsbeitrag »Es gibt kein Böses« (der auch den Goldenen Bären gewann) und der US-amerikanische Film »Never Rarely Sometimes Always« (der den Großen Preis der Jury erhielt).
»Es gibt kein Böses«
»Sheytan vojud nadarad« (»Es gibt kein Böses«) ist ein 150 Minuten langer Episodenfilm über die Todesstrafe – und vor allem darüber, welche Optionen man in einem despotischen Regime hat. Die vier Episoden zeigen vier Leben auf, für die sich die Protagonisten entscheiden: Anpassung, Verweigerung, Aufbegehren, (innere und äußere) Emigration.
In der ersten Episode begleiten wir einen Familienvater dabei, wie er die Tochter von der Schule abholt, für die Mutter den Haushalt erledigt, sich von seiner Frau (wegen seiner Nachtschichten) sagen lässt, auf einen Bonus zu drängen. Um ihm dann, nachts, bei seiner Arbeit – als Henker – zuzusehen. In der zweiten Episode befreit ein Rekrut einen zum Tode Verurteilten und flieht ins Freie. In Episode Drei bemüht sich ein Wehrpflichtiger um Sonderurlaub, damit er an der Geburtstagsfeier seiner Freundin teilnehmen kann (dafür exekutiert er jedoch – unwissentlich – einen Widerstandskämpfer und besten Freund der Familie). In Episode Vier schließlich erfährt eine in Hamburg lebende Studentin beim Heimatbesuch von den Lügen, die die Eltern ihr ein Leben lang aufgetischt haben.
Was den Film so stark macht, ist die Liebe, die er allen Akteur*innen entgegenbringt. In »Berlin Alexanderplatz« wird viel vom Gutmenschsein geredet. In »Es gibt kein Böses« wird weniger geredet und mehr gezeigt – und vor allem gezeigt: »Doch die Verhältnisse, sie sind nicht so!«
Wie schon Jafar Panahi 2015, der für »Taxi Teheran« den Goldenen Bären bekam, konnte auch Mohammad Rasoulof den Preis nicht selbst entgegennehmen, da man seinen Pass eingezogen hatte. Bereits der Dreh war ein Katz- und Mausspiel mit den Behörden. In der Woche nach der Preisverleihung wurde Rasoulof zudem zu einer Haftstrafe von zwölf Monaten verurteilt.
»Never Rarely Sometimes Always«
Als Harvey Weinstein im Februar 2020 verurteilt wurde, soll er gefragt haben: »Ist das Amerika?« Das Amerika, das der Filmmogul kennt, ist eines, das die meisten Sexualtäter ungestraft davonkommen ließ. So wurden in den USA laut »The Atlantic« zwar jährlich 125.000 Vergewaltigungen angezeigt. Doch kamen viele gar nicht erst vor Gericht. Und selbst dann wurden bislang 49 von 50 Angeklagten freigesprochen.
Genau in der Woche, in der Weinstein schuldig gesprochen wurde, lief Eliza Hittmans »Never Rarely Sometimes Always« auf der Berlinale. Ein Film über zwei Teenager, die – in einem einstigen pennsylvanischen Kohlerevier – neben der Schule in einem Supermarkt jobben und nach New York reisen, damit Autumn, die erst 17 ist – ohne Einwilligung ihrer Eltern – eine Abtreibung vornehmen lassen kann. Man muss das gesehen haben, wie ungeheuer traurig ihre erste Begegnung mit dem Big Apple ist, wie sie sich, ohne Bekannte, ohne Geld, an diesem Sehnsuchtsort durchschlagen müssen. »Niemals, selten, manchmal, immer« lautet der Antwortkatalog auf Fragen der Abtreibungsberaterin: Hat ihr Sexualpartner sie geschlagen? Sind sie zum Sex gezwungen worden? Während Autumn nach Antworten sucht, sieht der Zuschauer, wie dieses ganze von Armut und Gewalt geprägte Leben in ihrem Gesicht aufscheint. In dieser Szene gelingt dem Film, was Victor Hugo von der Musik verlangte: das auszudrücken, was nicht gesagt und nicht verschwiegen werden kann.
»Never Rarely Sometimes Always«, der schon auf dem Sundance Festival gefeiert wurde, reiht sich in die Arbeiten einiger unabhängiger US-Filmemacher*innen ein, die sich auf DVD entdecken lassen: »Winter‘s Bone«, »Leave No Trace« (beide von Debra Granik), »The Florida Project« (Sean Baker), »Manchester by the Sea« (Kenneth Lonergan).
[Dieser Aritkel ist Teil unseres Magazins, „Lernen im Kampf“, Nr. 5]