Italien wurde vom Coronavirus besonders schwer getroffen. Ein Blick auf die politische Lage, die von der Schwäche der Linken geprägt wird.
Interview mit Marco Veruggio, Mitglied von ControCorrente, einer Marxistischen Gruppe in Italien. Marco lebt in Rom.
[Dieser Artikel ist Teil unseres nächsten Magazins, „Lernen im Kampf“, Nummer 5, das Anfang April erscheint. Unterstütze uns und aboniere unser Magazin.]
Update: Nach unserem Interview verschärfte die italienische Regierung die Regelungen aufgrund der Coronavirus-Pandemie: Menschen dürfen ihr Haus nur noch wegen Arbeit und dringender Angelegenheiten verlassen.
Organisationen und Parteien, die im Interview erwähnt werden:
Movimento 5 Stelle (M5S), die Fünf-Sterne-Bewegung, ist eine populistische Partei, die 2009 gegründet wurde und angab, weder rechts noch links zu sein.
Partito Democratico (PD), die Demokratische Partei, ist eine neoliberale, sozialdemokratische Partei mit Wurzeln in der einst recht starken Kommunistischen Partei Italiens (CPI). Nach deren Rechtsruck formte sich 2001 die Partei Rifondazione Comunista (RC), die Partei für eine Kommunistische Neugründung. Der Niedergang der RC führte zu neuen Versuchen, linke Kräfte zu etablieren. Im Dezember 2017 gründete sich die Partei Potere al Popolo (PaP), die Macht dem Volk.
Liberi e Uguali (LeU), Frei und Gleich, ist eine Partei, die sich Ende 2017 von der PD abspaltete.
Italia Viva ist eine weitere Abspaltung von der PD, gegründet im September 2019 rund um den ehemaligen Regierungschefs Matteo Renzi.
Lega Nord, der Nördliche Bund, ist eine rechtspopulistische, migranten-feindliche Partei.
FIOM ist die traditionelle, linke Metallarbeitergewerkschaft. Sie ist Teil des Gewerkschaftsdachverbands CGIL.
Wenn in den Nachrichten von Italien die Rede ist, dann geht es in jüngster Zeit vor allem um den Coronavirus. Wie geht es Dir?
Mir geht es gut! Aber mir erscheint es so, dass sich generell eine Panikwelle ausbreitet und das Land in eine chaotische Lage bringt. Wie der Regierungschef Giuseppe Conte teilweise zugibt, ist das Problem weniger COVID-19, sondern mehr die nationale Gesundheitsversorgung, die nach Jahren von Haushaltskürzungen schlecht vorbereitet ist. Italiens Notfallkapazitäten sind in keiner Weise ausreichend für das, was nun benötigt wird an Personal und Ausstattung.
Die Regierung versucht, die Krise zu managen, Stärke zu demonstrieren und so zu tun, als führe sie das Land. Aber dem Regierungschef Conte und seiner Koalition aus M5S, PD, LeU und Italia Viva fehlt es an jeder Glaubwürdigkeit. Sie stehen von verschiedenen Seiten unter Druck, dem sie nicht Stand halten können.
Es gibt einen Mangel an Koordination zwischen den Regierungen auf kommunaler, regionaler und der nationaler Ebene. Von Anfang an haben Regionalregierungen, Bürgermeister und selbst Schulleitungen selbst Initiativen ergriffen, ohne das mit der Regierung vorher abzustimmen. Das war chaotisch.
Am 7. März hat die nationale Regierung dann angekündigt, dass der Norden Italiens abgeriegelt würde. 16 Millionen Menschen, ungefähr ein Viertel Italiens, sollten nicht mehr reisen, die Region nicht mehr verlassen. Doch am folgenden Tag verließen dann Tausende den Norden Italiens, unter anderem die Stadt Milan, und reisten in den Süden. Einige Gouverneure von Regionen im Süden drohten den Reisenden, sie würden verfolgt und bestraft. Andere Gouverneure sagten einfach nichts. Die Regierung war offensichtlich machtlos. Es ist chaotisch.
Zwei Tage später, am 9. März erklärte Conte dann eine neue Maßnahme: Im Moment dürfen wir unsere Städte nicht verlassen, außer wegen Arbeit oder unabdinglicher Notwendigkeiten.
Die Straßen und die Regale in den Läden leer.
Wie heißt das denn für das Leben der Menschen aus der Arbeiterklasse?
Wegen der Verbote und Einschränkungen droht, dass Arbeiter*innen ihre Jobs und Löhne verlieren. Ein Beispiel aus Genua: In Folge der Schulschließungen durch die nationale Regierung rief die “Unione Sindacale di Base (USB)”, eine Basisgewerkschaft, am 3. März die Lehrer*innen und Betreuer*innen von Kindern mit Behinderungen in den Schulen der Stadt zu einer Demonstration. Die Stadt zahlt diese Beschäftigten normalerweise nicht, wenn die von ihnen betreuten Schüler*innen zu Hause bleiben oder die Schulen geschlossen sind. Diese Beschäftigten besetzten den Stadtrat und verlangten Garantien für ihre Löhne. Der Stadtrat musste einlenken.
Doch viele Arbeiter*innen haben keine solche Absicherung für ihren Arbeitsplatz und für ihr Einkommen.
Außerdem weisen Unternehmen nicht darauf hin, wie sich Beschäftigte am Arbeitsplatz vor dem Virus schützen können. Das führt dazu, dass die Angst zunimmt. Seit Anfang März ist das das Thema Nummer eins an allen Arbeitsplätzen.
Du hast von einer schwachen Regierung gesprochen. Die Wahlen am 26. Januar in der Region Emilia-Romagna schien die Regierung zu stabilisieren, da es der Opposition rund um Matteo Salvini und seiner Lega Nord nicht gelang, dort eine Mehrheit zu gewinnen.
Das ist zu einem gewissen Grad richtig, was die PD anbelangt. M5S dagegen hat weniger als fünf Prozent in Emilia verbucht. Das war eine ihrer Hochburgen. Der Kern der Koalition, PD und M5S, sind geschwächt. Renzi (von der Italia Viva Partei, ebenfalls in der Regierungskoalition) versuchte, daraus Kapital zu schlagen und die Regierung in Fragen bezüglich des Justizsystems und bei den Renten zu erpressen.
Vor nur zwei Jahren war M5S bei den nationalen Wahlen 2018 mit 32 Prozent die stärkste Partei. Was ist passiert?
Im Grunde genommen haben sie das gleiche Schiksal gewählt wie die Rifondazione Comunista (RC) vor ihnen.
M5S kandidierte mit einem Programm gegen das Establishment. M5S hatte kein radikales, kein anti-kapitalistisches Programm. Aber sie stellten einige Forderungen auf gegen das Establishment und kritisierten alle etablierten Parteien von einem Blickwinkel der Mittelschichten aus. 2018 führten sie ihre Wahlkampagne gegen die “alten Parteien” – um dann mit zwei von ihnen zu koalieren, zuerst mit der Lega Nord, dann mit der PD.
Die Regierung der M5S mit der Lega Nord hatte eine rechtsradikale Ausrichtung besonders gegenüber Migrant*innen. Der Regierungschef Salvini versuchte mit eindeutig rassistischen Methoden, Migrant*innen abzuweisen, Schiffe von Nichtregierungsorganisationen mit Flüchtlingen aus dem Mittelmeer nicht anlegen zu lassen und die Rechte von Asylbewerbern einzuschränken. All das ging einher mit rassistischer Hetze und Angriffen auf die Organisationen, die die Rechte von Migrant*innen verteidigten.
Trotz der Behauptung von M5S, weder rechts noch links zu sein, hatten viele ihrer Aktivist*innen einen linken Hintergrund. Dieses Vorgehen, einschließlich der reaktionären Propaganda gegen Bürgerrechte und eine Haltung der Verteidigung der Konzerninteressen, all das war ein Schlag ins Gesicht dieser Aktivist*innen.
Wie würdest Du M5S und deren Klassencharakter beschreiben?
Interessanterweise ist der Klassencharakter von M5S und der Lega Nord recht ähnlich. Beide repräsentieren die Mittelklasse, kleinbürgerliche Schichten.
Aber die Lega Nord vertritt die Mittelschichten aus dem Norden Italiens. Deren Forderung ist es, Steuern zu kürzen, eine flat tax einzuführen.
M5S repräsentiert die Mittelschichten aus Süditalien und die wollen mehr wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen wie ein Bürgergeld. Dieser Widerspruch führte dazu, dass die Lega Nord die Koalition mit M5S im vergangenen August beendete.
Gegen Salvini hat sich eine neue Bewegung formiert, die Bewegung der Sardinen. Sie nennen sich so, da sich Menschen bei Demonstrationen gegen ihn zusammenbringen wollten so eng wie Sardinen in einer Büchse.
Ja, das ist eine Bewegung, die von fünf jungen Menschen in Bologna, der Hauptstadt der Region Emilia-Romagna, im November 2019 gestartet wurde. Als Antwort auf Salvinis Rassismus und Populismus verbreitete sich recht rasch eine sehr gemischte Bewegung, teils spontan, teils unterstützt vom Gewerkschaftsapparat, der PD und von Nichtregierungsorganisationen, die der PD nahe stehen.
Die Region Emilia-Romagna ist ein Spezialfall: Es ist die einzige Region, wo es immer noch eine einflussreiche linke Bürokratie der Gewerkschaften und von Genossenschaften gibt. Das geht zurück auf die Stärke, die der Apparat der Kommunistischen Partei (CPI) früher hatte. In diesem Teil Italiens sind die Traditionen der CPI noch verwurzelt in der Gesellschaft. Sie sind noch sichtbar vor Ort.
Emilia-Romagna ist eine der reichsten Regionen im Norden. Aber ökonomisch wird sie von kleineren Unternehmen und “roten Genossenschaften” dominiert. Die Unternehmen sind fragmentierter und benötigen mehr Unterstützung von der regionalen und von den kommunalen Regierungen. Die Unternehmen haben eine enge Beziehung zur PD. Ein Wechsel hin zur Lega Nord wäre für die einem Schritt ins Ungewisse gleich gekommen. Das war nicht, was sie wollten.
Wir konnten also dann beobachten, wie sich eine Bewegung gegen Salvini formierte, die eher einen Mittelschichten-Charakter hatte. Das Hauptziel war, Salvini und seine Lega Nord zu schlagen. Aber das bedeutete dann auch, dass innerhalb der Sardinen-Bewegung keinerlei politische Diskussionen möglich waren. Die Menschen hatten keine gemeinsamen Positionen gegenüber den verschiedenen Fragen. Jegliche Diskussion innerhalb der Bewegung hätte das sofort sichtbar gemacht und die Widersprüche ans Licht gebracht – und zu einer Implosion der Bewegung führen können.
Trotzdem hat sich die Sardinen-Bewegung in ganz Italien ausgebreitet, richtig?
Ja, und sie hatten im Dezember Demonstrationen mit Zehntausenden in Turin, Milan, Florenz, Neapel und vielen anderen Städten. Am 14. Dezember kamen in Rom knapp 100.000 Menschen zu einer Demonstration der Sardinen.
Aber die Bewegung ist heterogen. In einigen Städten kommen die prominentesten Kräfte von einem katholischen Hintergrund, von katholischen Gewerkschaften, Verbänden und Jungscharen. In anderen Orten werden sie dominiert von Mitgliedern und Aktivist*innen der PD. Dann wieder gibt es Städte, wo die Führung vor allem aus Intellektuellen besteht.
Nachdem den Wahlen in Emilia-Romagna und in Kalabrien scheint es zudem auch so, als habe die Bewegung sich erschöpft. Es wird nach wie vor zu Demos aufgerufen, doch die Teilnehmerzahlen sinken.
Die Anführer der Bewegung haben auch einige signifikante Fehler gemacht. Der schlimmste war, dass sich die Gründer der Bewegung – Mattia Santori, Roberto Morotti, Giulia Trappoloni und Andrea Garreffa – mit Luciano Benetton getroffen haben, einem Mitglied einer der reichsten Familien Italiens. Die Benetton-Milliardäre kontrollieren 30,25 Prozent von Atlantia. Das ist der Konzern der mittels der Konzession, die Autobahnen zu betreiben, auch für die Morandi-Brücke bei Genua Verantwortlich war, die 2018 einstürzte. Das kostete 43 Menschen das Leben. Atlantia stellte einfach den Profit über unsere Sicherheit. Als die Regierungskoalition darüber diskutierte, ihnen diese Konzession zu entziehen, trafen sich die Anführer der Sardinen mit einem entscheidenden Aktionär. Das war ein Skandal.
Daher ist die Zukunft der Bewegung sehr offen. Einige der führenden Köpfe der Sardinen werden einfach bei den nächsten Wahlen als Kandidaten der PD oder einer anderen Mitte-Links-Partei antreten.
Was ist übrig von den revolutionär-sozialistischen Traditionen und Organisationen in Italien, in diesen Bewegungen und auf Wahlebene?
Sehr, sehr wenig. Es ist eine Tragödie.
Bei den letzten Wahlen traten drei verschiedene Formationen der radikalen Linken an. Die Überbleibsel der Rifondazione Comunista (RC), die Stalinistische Kommunistische Partei und Potere al Popolo (PaP), die Macht dem Volk. Daneben gab es noch kleinere Gruppen. Alle zusammen bekamen im Januar nur 1,2 Prozent der Stimmen in Emilia-Romagna.
PaP war im Dezember 2017 gegründet worden. Linke Kräfte rund um die RC und Autonome aus sogenannten “Sozialen Zentren” kamen damals zusammen. Aber nachdem PaP 2018 keinerlei Sitze im Parlament gewinnen konnte und die Drei-Prozent-Hürde sehr klar verpasste, verließ die RC die PaP, die weiter fragmentierte. Jetzt hat die PaP vor allem noch eine kleine Basis im Süden Italiens.
All das spiegelt die schlimmste Stagnation der linken sozialen und ökonomischen Bewegungen wider, die ich jemals in Italien gesehen habe. Der Klassenkampf ist auf einem niedrigen Niveau. Die politische Krise der Linken ist tief und hält an.
Es kann sein, dass etwas neues, linkes, eine neue Liste oder ein neuer Name in naher Zukunft ausgerufen wird oder aufkommt, zum Beispiel bei Wahlen. Aber ich fürchte, dass das nichts dauerhaftes sein wird. Bei den ersten Problemen kommt es bei solchen Kräften zu Spaltungen und zur Zersplitterung.
Wenn man sich nicht klar darüber ist, was man aufbauen möchte, dann wird das nichts. Eine Diskussion über die entscheidenden politischen Fragen ist nötig, bevor man auch nur ein Bild davon entwerfen kann, wie eine neue linke Partei aussehen könnte, die das Vertrauen von Schichten der arbeitenden Menschen und Jugendlichen gewinnen könnte.
In der Vergangenheit gab es zumindest als einen Bezugspunkt im Widerstand im Klassenkampf noch die FIOM, die linke Metallarbeitergewerkschaft.
Das ist nicht mehr der Fall. Die nationale Führung der FIOM und des Gewerkschaftsdachverbandes, dem sie angehört, der CGIL, scheinen keine klare Strategie zu haben. Nimm als Beispiel die Fragen rund um den Coronavirus. Sie ergreifen keinerlei konkrete Initiative in den Betrieben. In den letzten Wochen haben sie nicht den nötigen Druck auf die Regierung und die Konzerne ausgeübt, Jobs und Löhne zu verteidigen. Jetzt, nachdem die Situation eskaliert, nutzen die Konzerne die Lage aus.
Die Konzerne sind schnell dabei, ihren Vorteil zu sichern. Die erhöhen die Zahl der Leute, die von zu Hause aus arbeiten sollen, ohne jegliche gewerkschaftliche Mitsprache. Die Tarifverträge regeln klar, dass die Zustimmung der Gewerkschaften nötig sind, um die Bedingungen der Heimarbeit zu regeln. Arbeiter*innen werden gedrängt ihre Wohnung, ihren Computer und ihre Netzanbindung für ihre Arbeit zu nutzen. Die Regierung erklärt das einfach einen Notfall und die gewerkschaftlichen Rechte werden außer Kraft gesetzt. Die Arbeitgeber nutzten das, um die Zahl der Leute, die von zu Hause arbeiten, drastisch zu erhöhen.
Oder schau Dir dieses Beispiel an: Der multinationale Stahlhersteller ArcelorMittal übernahm den größten italienischen Stahlhersteller ILVA. ILVA betreibt in Taranto den größten stahl-produzierenden Einzelbetrieb in Europa und hat weitere kleinere Produktionsstätten in Novi Ligure, Genua und anderswo mit insgesamt 11.000 Beschäftigten und rund 20.000 bei abhängigen Zulieferern und Subunternehmen. Dann verkündete ArcelorMittal, Italien verlassen zu wollen, da sie sich mit der Regierung über einige Fragen nicht einigen konnten. In dieser Machtprobe versuchen sie, auf dem Rücken der Beschäftigten den Druck auf die Regierung zu erhöhen. Vor ein paar Tagen kündigten sie an 260 ILVA-Arbeiter*innen zu entlassen. FIOM rief in Genua deshalb zu einer Vollversammlung der Beschäftigten auf. Aber ArcelorMittal verbot es den Arbeiter*innen sich zu versammeln, angeblich wegen des Coronavirus. Und die Regierung blieb stumm.
So versuchen Konzerne, die Situation für sich auszunutzen.
Sie erwarten weitere wirtschaftliche Schwierigkeiten und eine Rezession. Sie wollen weitere Restrukturierungen durchführen, inklusive Lohnkürzungen. Sie fordern weitere Zugeständnisse der Regierung. Mit wenigen lokalen Ausnahmen haben die Gewerkschaften nicht darauf reagiert. Sie stellen keine Forderungen auf. Sie scheinen keine Strategie zu haben. Die Schwäche der Gewerkschaften spiegelt das politische Vakuum auf der Linken wider. Dieses Vakuum muss gefüllt werden!
Das Interview mit Marco Veruggio führte Stephan Kimmerle.