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Geld oder Leben? Das Comeback der Arbeitszeitfrage

Ohne Zweifel erlebt die Arbeitszeitfrage ein gewerkschaftspolitisches Comeback: In mehreren Einzelgewerkschaften und Branchen rückte die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten in den letzten Jahren in den Fokus.

von David Matrai, Hannover

So setzte die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) bei der Bahn AG ein Wahlmodell durch, nach dem zwischen zusätzlichen freien Tagen und zusätzlichen Lohnsteigerungen ausgewählt werden kann. Ähnliches vereinbarte ver.di etwa bei der Deutschen Post. Die IG Metall erstritt 2018 in der Metall- und Elektroindustrie ebenfalls ein Wahlmodell – mit der Möglichkeit für Beschäftigte in Schichtarbeit, mit kleinen Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen, Tariferhöhungen gegen acht zusätzliche freie Tage zu tauschen, von denen zwei das Unternehmen bezahlt. Und die IG BCE setzte kürzere Arbeitszeiten in der Chemieindustrie Ostdeutschlands durch. Auch die IG Metall streitet für die Ost-West-Angleichung auf 35 Wochenstunden. Da Gesamtmetall eine Einigung blockiert hat, steht nun ein »Häuserkampf« an.

Schließlich wird die Arbeitszeitfrage im kommenden Jahr in der Tarifrunde von Bund und Kommunen gestellt und damit tarifpolitisch ins Zentrum der Dienstleistungsgewerkschaft rücken.

Arbeitszeitbefragung von ver.di

Vor dem Beschluss der Forderungen für die kommende Tarifrunde im Öffentlichen Dienst hat ver.di eine breit angelegte Befragung zur Arbeitszeit durchgeführt. Der Rücklauf von über 210.000 ausgefüllten Fragebögen sowie weiteren knapp 18.000 aus nicht-staatlichen Gesundheits- und Sozialeinrichtungen dokumentiert das große Interesse an diesem Thema, auch wenn eine solche Befragung gemeinsame Diskussion und Meinungsbildung in den ver.di-Gremien und Betriebsgruppen nicht ersetzen kann.

Zunächst bestätigt die Befragung die Bedeutung der Arbeitszeitfrage, allein weil über zwei Drittel der Befragten angeben, vor allem aufgrund des Personalmangels länger als vereinbart arbeiten zu müssen. Über 90 Prozent wollen eine Wahlmöglichkeit zwischen mehr Freizeit und Lohnsteigerungen haben. Eine Mehrheit von 57 Prozent gibt an, zugunsten von mehr Freizeit auf tarifliche Lohnsteigerungen verzichten zu wollen – je höher das Einkommen (und je länger die vertragliche Arbeitszeit), desto ausgeprägter ist dieser Wunsch. Unterdurchschnittlich stark ist die Forderung nach mehr Freizeit bei geringeren Lohnzuwächsen bei Teilzeitbeschäftigten und Geringverdiener*innen.

Das mehrheitlich bevorzugte Modell einer kürzeren Arbeitszeit ist die kollektive Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Allerdings gibt es hier erhebliche Unterschiede zwischen Branchen: Kranken- und Altenpflegekräfte ziehen zusätzliche freie Tage einer kürzeren Wochenarbeitszeit vor. Der Grund dürfte sein, dass sich zusätzliche freie Tage besser gegen Übergriffe des Arbeitgebers verteidigen lassen.

Wahlmodell als einzige Option?

So weit, so gut und informativ und differenziert. Gleichwohl gibt es Kritik an der Befragung, denn die Forderung nach kürzeren Arbeitszeiten ohne Abstriche bei der Lohnentwicklung kommt nicht vor. Dabei ist eine solche Forderung angesichts der Produktivitätssteigerungen und Belastung der Beschäftigten allemal gerechtfertigt. Hinzu kommt, dass – und dies zeigt die Befragung deutlich – Arbeitszeitverkürzung bei Lohnverlusten oder bei Verzicht auf deutliche Lohnsteigerungen für (Teilzeit-)Beschäftigte mit Niedriglöhnen keine Option ist. Dabei sind es oft gerade Geringverdiener*innen, die Entlastung durch mehr Freizeit dringend nötig hätten.

Grund der Zurückhaltung ist, dass viele einen Kampf für Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich derzeit nicht für gewinnbar halten. Tatsächlich werden die Arbeitgeber einer solchen Forderung ohne erfolgreiche Arbeitskämpfe nicht nachgeben und niemand kann mit Sicherheit sagen, dass die volle Durchsetzung einer solchen Forderung gelingen würde. Durchsetzungsfähigkeit stellt man allerdings erst Recht nicht her, indem schon die Diskussion über ein solch zentrales Anliegen ausgeblendet wird. Wie soll das Ziel kürzerer Arbeitszeiten ohne Lohnverluste – auch mittelfristig – wieder breit verankert werden, wenn nicht breit darüber debattiert wird?

Es könnt‘ alles so einfach sein…

Die ver.di-Befragung und die Diskussion zeigen, wie sich die Situation der Beschäftigten in den Branchen des Öffentlichen Dienstes – nach Einkommen, individueller Arbeitszeit, praktiziertem Arbeitszeitmodell und Lebensphase – unterscheidet. Es ist somit eine Herausforderung, gemeinsame Forderungen für die Mobilisierung zu entwickeln. Hinzu kommt, dass mit kürzeren Arbeitszeiten zwingend der Kampf für mehr Personal einhergeht – kein leichtes Unterfangen, da doch die Arbeitgeber eine weitere Arbeitsintensivierung und Mehrarbeit zusätzlichen Einstellungen vorziehen.

Unter diesen Vorzeichen spricht aktuell viel für die Forderung nach zusätzlichen freien Tagen und den damit verbundenen, individuell spürbaren Entlastungseffekt. Der Druck auf die Arbeitgeber wäre so am größten, zusätzliches Personal einzustellen und die Gefahr zusätzlichen Arbeitsdrucks und weiterer Überstunden am geringsten. Darüber hinaus bleibt jedoch die Notwendigkeit bestehen, eine kollektive Perspektive für mehr freie Lebenszeit und für ein neues gesellschaftliches Normalarbeitsverhältnis der »kurzen Vollzeit« zu entwickeln – hierfür braucht es eine breite gewerkschaftliche und gesellschaftliche Debatte und Bewegung.

Vorläufig ist festzuhalten, dass das Comeback der Arbeitszeitfrage notwendig war und positiv stimmt – ob es ein erfolgreiches Comeback wird, bleibt offen.

Den vollständigen Bericht der Umfrage gibt es hier: Arbeitszeitumfrage

Der Autor ist Gewerkschaftssekretär bei ver.di Niedersachsen-Bremen.