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»Repräsentanten? Ja, aber jederzeit abwählbare«

Über die Forderungen der Gelbwesten nach neuen Formen der Vertretung in Frankreich

von Tinette Schnatterer, Bordeaux

Seit dem 17. November 2018 bewegen die Gelbwesten Frankreich. Der Auslöser der Bewegung war die geplante Einführung einer Benzinsteuer. Allerdings wurde schnell klar, dass es den Aktivist*innen um viel mehr geht: niedrige Löhne, sinkende Kaufkraft, die Forderung nach Steuergerechtigkeit und mehr Mitbestimmung – die Anliegen der Gelbwesten sind vielfältig.

Zwischen dem 17. November und Mitte Dezember 2018 demonstrierten wöchentlich mehrere hunderttausend Menschen. Mit wöchentlichen Aktionen, die auch nach mehreren Monaten noch jeden Samstag zehntausende Demonstrant*innen auf die Straßen bringen, zeichnet sich die Bewegung außerdem durch eine erstaunliche Ausdauer aus.

Inzwischen sind die Samstagsmobilisierungen abgeflaut, auf Dauer war dieser Rhythmus kaum vereinbar mit dem Arbeits- und Familienleben der Aktivist*innen.

Ein Teil von ihnen hat sich anderen Organisationsformen zugewandt, zum Beispiel der Organisation von solidarischen Tafeln oder Märkten, um den leeren Kühlschränken am Monatsende entgegen zu wirken. Andere sind gegen die geplante Privatisierung des Pariser Flughafens aktiv.

Obwohl viele der zu Beginn der Bewegung besetzten Kreisverkehre im Dezember geräumt wurden, sind einige noch immer in den Händen der Gelbwesten. Insgesamt kann festgehalten werden, dass die Bewegung »schlummert«, aber jederzeit wieder erwachen kann.

Lernprozess im Zeitraffer

Zwischen November 2018 und April 2019 haben wir 1.300 Gelbwesten – direkt bei den Demonstrationen und besetzten Kreisverkehren in ganz Frankreich – mit Hilfe eines Fragebogens befragt. Die Initiative dazu haben zwei Kolleginnen, M. Della Suda und C. Bedock, aus Bordeaux mit mir zusammen ergriffen. Inzwischen ist daraus ein Kollektiv von Wissenschaftler*innen, Doktorand*innen und Studierenden aus verschiedenen Fachrichtungen geworden.

Während soziale und ökonomische Themen bei den Motivationen und Forderungen der Gelbwesten ganz oben stehen, äußerten sich auffallend viele Aktivist*innen auch zur Organisation des politischen Systems und seiner Institutionen.

Auf die Frage »Warum demonstrieren Sie heute?« führten 26 Prozent der Befragten spontan Kritik an den politischen Institutionen und der heutigen Form der Repräsentation an.

In einer zweiten Etappe haben wir im Frühjahr begonnen, mit einem Teil der Aktivist*innen vertiefende Interviews zu führen. Bei der Auswahl dieser Personen haben wir darauf geachtet, dass die Verteilung bezüglich des Geschlechts, des Alters, des Berufs und der bisherigen politischen Erfahrung der Zusammensetzung der gesamten untersuchten Bevölkerung (1.300 Menschen) entspricht. Eine erste Auswertung von 25 vertiefenden Interviews erlaubt ein besseres Verständnis der aufgeworfenen Forderungen.

Die Aussage, dass wir »nicht mehr in einer Demokratie« leben zieht sich wie ein roter Faden durch die Einschätzungen der Gelbwesten. Häufig fallen Begriffe wie »Monarchie«, »Diktatur« oder »Faschismus«, um das heutige System zu beschreiben. Erfahrungen mit Polizeigewalt gegen die Demonstrationen haben vor allem diejenigen Aktivist*innen stark geprägt, die vor der Bewegung noch an keiner Demonstration teilgenommen hatten.

Eine Mutter von drei Kindern berichtete zum Beispiel von ihrem 36-stündigen Polizeigewahrsam ohne jegliche Begründung, andere von der Angst, die sie auf Demonstrationen mit zahlreichen Verletzten ausstanden. Die Darstellung der Proteste in den Medien (die Darstellung der Gewalt, das systematische Herunterrechnen der Teilnehmerzahlen und so weiter) brachte viele Aktivist*innen dazu, ihr Informationsverhalten zu ändern: Fast alle befragten Gelbwesten berichteten, dass sie seit Beginn der Bewegung den traditionellen Medien den Rücken gekehrt und sich alternativen Informationskanälen zugewendet haben.

Parallel zu diesen Erfahrungen berichten viele Teilnehmer*innen von einem Lernprozess im Zeitraffer. Über Diskussionen mit anderen Gelbwesten haben sie sich in kurzer Zeit Wissen über die Funktionsweise des politischen Systems angeeignet, über in den vergangenen Jahren erlassene Gesetze und geplante Maßnahmen in allen möglichen Politikbereichen. Gleichzeitig bieten die regelmäßig auf lokaler und überregionaler Ebene organisierten Generalversammlungen der Bewegung die Gelegenheit, neue Organisationsformen kennenzulernen (besonders in den überregionalen Versammlungen spielen erfahrenere Aktivist*innen eine größere Rolle als in der restlichen Bewegung). Einige Aktivist*innen nannten diese Generalversammlungen auch als mögliches Modell für eine bessere Organisation der Gesellschaft.

Berücksichtigung der Anliegen der »einfachen Leute«

Tatsächlich treten viele Gelbwesten dafür ein, Repräsentation auf Grundlage von drei Kernprinzipien zu verändern: eine bessere Kontrolle der Abgeordneten, weniger Abgehobenheit und die Berücksichtigung der Anliegen der »einfachen Leute«.

Nach Vorstellung der Gelbwesten sollten gewählte Vertreter*innen eher als Sprecher*innen der sie Wählenden verstanden werden. Sie fordern Kontrollmöglichkeiten bezüglich der Organisation der Arbeit der Gewählten sowie die Möglichkeit, sie jederzeit absetzen zu können. Estelle (42 Jahre, Schulbegleiterin) erklärt zum Beispiel: »Repräsentanten? Ja. Abwählbare Repräsentanten (…) nicht nur während einer Probezeit, sondern jederzeit abwählbar.«

Viele Gelbwesten sind frustriert, dass die Anliegen der »einfachen Leute« kein Gehör finden. Charles (58, Polizist in Rente) erklärt, wenn Macron gute Berater hätte, die morgens ihren Kaffee in einem Straßencafé trinken und »dem Frankreich von unten« zuhören würden, wäre die Regierung nicht so erstaunt über die Bewegung gewesen. Das Verständnis von gewählten Vertreter*innen als Sprecher*innen der sie Wählenden beinhaltet auch, dass als deren Hauptfunktion genannt wird, Forderungen und Anliegen nach Paris zu bringen.

Politische Vertreter*innen sollten dabei in den Augen der Gelbwesten Leute sein »wie wir«. Didier (55 Jahre, LKW-Fahrer) möchte von »menschlichen Leuten« vertreten werden, »die verstehen können, was es heißt zu arbeiten, morgens um 5 Uhr aufzustehen, um zu schuften«.

Eine große Rolle in den Interviews spielt auch die Wut der Aktivist*innen auf die Privilegien der Politiker*innen. Diese wird doppelt begründet: mit den Kosten, die dadurch für die Gesellschaft entstehen, und der daraus resultierenden Abgehobenheit. Remy (18 Jahre, Arbeiter) führt aus: »Das drückt sich schon darin aus, dass ein Mann und eine Frau alleine in einem goldenen Schloss leben, während einige Mitglieder meiner Familie in Räumen mit Schimmelbefall wohnen, die kalt sind und schlecht isoliert, mit viel Feuchtigkeit, und dass die Menschen, die in dem Schloss wohnen, beschließen, Geld von den Menschen zu nehmen, die in dem Haus mit Schimmel wohnen. Voilà, die Abgehobenheit.«

Die Forderung nach einem Ende der Abgehobenheit ist auch durch die Überzeugung motiviert, dass »normale Leute« genauso in der Lage seien, Politik zu machen.

Was ist neu an den Forderungen der Gelbwesten?

Tatsächlich unterscheiden sich die Erkenntnisse unserer Studie von denen, die vor ein paar Jahren in Frankreich durch Befragungen zum Thema Repräsentation gewonnen wurden. Dies lässt sich mit dem Lernprozess in der Bewegung erklären. Die Aktivist*innen, die ursprünglich vor allem aus Wut über soziale Ungerechtigkeiten auf die Straße gegangen sind, haben ihre Forderungen auch auf die Form der Repräsentation ausgedehnt.

Die Gelbwesten nehmen eine sehr kritische Haltung gegenüber politischen Parteien und in geringerem Umfang auch gegenüber Gewerkschaften ein. Diese sind in der Bewegung sehr wenig und sehr spät in Erscheinung getreten. Trotzdem haben einige langjährige Aktivist*innen, sowie die erwähnten alternativen Medien, natürlich Vorschläge in die Bewegung getragen. Es ist interessant, welche Positionen von der Bewegung übernommen wurden. Die Forderungen, die zum Thema Repräsentation von den Gelbwesten vorgebracht werden sind nämlich keinesfalls neu: Der Ruf nach Abwählbarkeit von Vertreter*innen, und nach Vertreter*innen, die an den Wählerwillen gebunden sind und einen durchschnittlichen Facharbeiterlohn beziehen, sind bereits in der Pariser Kommune 1871 aufgekommen. Karl Marx theoretisierte sie zum Beispiel im »Bürgerkrieg in Frankreich« und Organisationen der Arbeiterbewegung haben sie seither vertreten. Es ist bemerkenswert, dass die Bewegung genau diese Positionen aufgegriffen hat. Neben Forderungen zu sozialer Gerechtigkeit und Umverteilung sind sie zu zentralen Forderungen der Gelbwesten geworden.

Tinette Schnatterer arbeitet als Forscherin am Centre national de la recherche scientifique, CNRS, Sciences Po Bordeaux

Ausführliche Darstellung der Ergebnisse auf französisch: Bedock, Schnatterer, Bodin und Liochon, »Au-delà des partis et des élections? Confronter théorie politique et perceptions des acteurs«, Präsentation auf der AFSP-Konferenz, Juli 2019

Der Artikel ist Teil der September-Ausgabe des Magazins „Lernen im Kampf“, das hier bestellt werden kann.