Doppelter Blick auf Jane McAlevey und ihr neues Buch »No Shortcuts – organizing for power«, deutsche Ausgabe: »Keine halben Sachen: Machtaufbau durch Organizing«
Jane McAlevey ist eine Organizing-Koryphäe aus den USA. Ongoo Buyanjargal, in Berlin lebende Organizerin, wirft einen Blick darauf, wie ihre Ideen in Deutschland aufgenommen werden. Philip Locker, Sozialist in Seattle, beleuchtet ihre Argumente aus US-Blickwinkel.
100 Prozent Streikbeteiligung – ernsthaft?
von Ongoo Buyanjargal
Auf der Streikkonferenz der Rosa-Luxemburg-Stiftung trat Jane McAlevey erstmals in Deutschland auf. Gleichzeitig erschien auf der Konferenz die deutsche Übersetzung ihres zweiten Buchs »No Shortcuts – organizing for power«. McAlevey sprach bei der Konferenz über sogenannte super majority strikes (Streiks mit überwältigenden Mehrheiten), darüber wie diese organisiert werden und wie man so gewinnen kann.
Linke Aktivist*innen, ehrenamtliche und hauptamtliche Gewerkschafter*innen, die Zuhörer*innen des Vortrages, waren hinterher gespalten. Die Skeptiker*innen zweifeln an den Methoden und betonen besonders die Unterschiede zwischen den USA und Deutschland. Super-Mehrheiten organisieren, damit meint McAlevey 95 bis 100 Prozent Streikbeteiligung nicht nur der Gewerkschaftsmitglieder, sondern des gesamten Betriebs. Geht so etwas überhaupt in Deutschland? Muss das sein?
Diejenigen, die diesen Organizing-Methoden offen gegenüberstehen, sind beeindruckt von 95 bis 100 Prozent Streikbeteiligung einer Belegschaft. Man stelle sich einen solchen Streik in Deutschland vor – was für Erfolge wären da möglich!
Das deutsche Streikrecht macht Minderheitenkämpfe leichter als in den USA. Überhaupt hat die Arbeiterbewegung in Deutschland mehr an Gewerkschafts- und demokratischen Rechten erkämpfen können. In den USA gibt es ein stärker eingeschränktes und reglementiertes Streikrecht. Wer sich gewerkschaftlich organisiert, riskiert mehr. Der beste Schutz gegen dieses Risiko besteht darin, dass sich sehr deutliche Mehrheiten innerhalb der Belegschaft gewerkschaftlich organisieren oder in den Streik treten. McAlevey will systematisch erschließen, mit dem ernsthaften Ziel, die große Mehrheit in den Kampf zu führen. Ihre Methoden basieren auf praktischen Erfahrungen und führen auch zu substanziellen Gewinnen, wie zuletzt der Erzwingungsstreik der Lehrkräfte in Los Angeles gezeigt hat.
Die Meinungen über McAlevey sind – wie gesagt – gespalten. Die Einen fühlen sich fundamental kritisiert. Jahrelang haben sie nur mobilisiert und dachten, dass sie organisieren. Die Anderen sehen eine Antwort auf die jahrelangen mehr oder weniger fruchtlosen Bemühungen, erfolgreiche Bewegungen aufzubauen. Sie studieren und diskutieren die Methoden von McAlevey.
Wir stehen vor der Frage, wie wir in Zeiten von Krise und Rechtsruck, Angriffen auf Arbeitsbedingungen und Lohnsenkungen, Gewinne erringen können, die zu spürbaren Verbesserungen führen. Ich denke, dass die Organizing-Methoden, die McAlevey in »No Shortcuts« zusammenfasst, Antworten auf diese Frage geben können. Einige wenden Teile der Methoden bereits an und wir sollten gemeinsam aus diesen Kämpfen lernen.
Deep Organizing
»No Shortcuts« unterscheidet drei Ansätze: Advocacy (Lobbyismus) »bezieht die gewöhnlichen Menschen in keiner Weise wirklich mit ein; Anwälte, Meinungsforscher, Wissenschaftler und Kommunikationsfirmen werden beauftragt«, Druck zu machen.
Mobilisierung wiederum schaut in Richtung Kampf, basiert aber darauf, engagierte Aktivist*innen rauszuholen, nicht jedoch die Masse der Lohnabhängigen.
McAlevey argumentiert für einen dritten Ansatz, das Deep Organizing. Im Mittelpunkt davon steht die Technik der »Leadership-Identifikation«, also das Identifizieren jener Arbeiter*innen, die von den Kolleg*innen am meisten respektiert werden und die ihre Kolleg*innen in einen Kampf führen können. McAlevey zufolge geht es bei Organizing darum, die Basis zu verbreitern, indem Menschen erreicht und organisiert werden, die zuvor noch nie beteiligt waren an Kämpfen. Dies sei die Grundlage von Handlungsmacht und Erfolgen. Kampagnen seien zwar wichtig, aber, so McAlevey, »in erster Linie ein Mechanismus, um mehr Menschen in den Veränderungsprozess einzubinden«.
Dieser Ansatz spiegelt den traditionellen strategischen Fokus von Marxist*innen wider: den Aufbau der Macht der Arbeiterklasse, indem sie ihr Niveau an Organisation, Zusammenhalt und Kampfbereitschaft erhöht.
»Echte Streiks«
von Philip Locker
»No Shortcuts« ist eine Kritik der dominanten Ideologie, der Strategie und der Organisationsmethoden, die die heutige Gewerkschaftsbewegung in den USA und darüber hinaus durchdringt, einschließlich ihres fortschrittlichen Flügels. Die größte Stärke von McAlevey ist dabei ihr Beharren darauf, dass der traditionelle Streik das mächtigste Werkzeug der Arbeiter*innen und unerlässlich für den Aufbau ihrer Macht ist. Und mit Streiks meint sie »echte Streiks«, die tatsächlich die wirtschaftliche Tätigkeit eines Arbeits-/Industriebetriebs lahmlegen.
Während wir im vergangenen Jahr in den USA eine vielversprechende Rückkehr solcher »echten Streiks« erlebt haben, beispielsweise die Welle von Lehrerstreiks, war dies in den vergangenen Jahrzehnten in den USA nicht die Regel.
Es fehlt den Beschäftigten ein Mittel, um die gescheiterte Politik der derzeitigen Gewerkschaftsführungen zu überwinden und eine alternative Strategie zu entwickeln.
McAlevey stellt »echte Streiks« symbolischen Proteststreiks gegenüber, wie sie im Kampf für 15 Dollar Mindestlohn praktiziert wurden, bei vielen (wenn auch nicht allen) der US-Frauenstreiks 2017 und 2018 oder den allzu häufigen erfolglosen Streiks, bei denen die Lohnabhängigen zwar die Arbeit niederlegen, aber das Unternehmen mit Ersatzarbeiter*innen weiterläuft.
»No Shortcuts« zeigt anhand einer Reihe von Fallstudien, wie das Modell Organizing der vorherrschenden Strategie der Gewerkschaftsführungen weit überlegen ist. Angesichts dessen fragt McAlevey zu Recht: »Wenn Organizing so effektiv ist, warum wurde es dann weitgehend aufgegeben?«
Falsche Ideen?
Dies ist jedoch auch die Achillesferse ihres Buches. Denn laut McAlevey sei der Grund dafür die Dominanz falscher Ideen. Was fehlt, ist eine systematische Analyse davon, weshalb sich so übergroße Teile der Gewerkschaftsapparate trotz aller Beweise für ihre Ineffektivität so verzweifelt an diese Ideen klammern. Die Arbeiter*innen sind dann mit dieser scheinbar selbstmörderischen Strategie der Gewerkschaftsbürokratie konfrontiert. Sie ist allerdings nicht nur selbstmörderisch, sondern spiegelt vielmehr deren Interessen, ihre soziale Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft und ihre soziologische Zusammensetzung wider.
McAleveys analytische Schwäche in dieser Frage führt sie selbst zu einer »Abkürzung«, wie Mike Parker in seiner Kritik bei Labor Notes schreibt, der bekanntesten Plattform zum Austausch unter Gewerkschaftslinken in den USA. »Es gibt keine Diskussion darüber, wie man den Kampf innerhalb der Gewerkschaften weiterführen kann, um sie zu ändern, damit sie diese Richtlinien übernehmen […]. Tatsächlich müssen sie [die jetzigen Gewerkschaftsführer*innen – Red.] oft ersetzt werden, indem sich ihre Gegner*innen organisieren und ihnen ihre Ämter streitig machen. Das kann genauso schwierig sein wie der Kampf gegen den Chef – und ist genauso notwendig, um die Gewerkschaft in die Lage zu versetzen, den Chef bekämpfen zu können.«
»No Shortcuts« ist eine gelungene Kritik an der bankrotten Politik, die die Arbeiterbewegung und die breitere Linke dominiert.
McAlevey macht Arbeiter*innen, nicht hauptamtliche Gewerkschafter*innen oder Anwält*innen, als Akteur*innen einer mächtigen Arbeiterbewegung aus. Aber es fehlt den Beschäftigten ein Mittel, um die gescheiterte Politik der derzeitigen Gewerkschaftsführungen zu überwinden und eine alternative Strategie zu entwickeln.
»Die ganze Arbeiter*in«
McAlevey betont, dass »die ganze Arbeiter*in« organisiert werden müsse. Sie erkennt an, dass gewerkschaftliche Kämpfe außerhalb des Arbeitsplatzes ausstrahlen und gleichzeitig auch Kraft von außerhalb schöpfen können. Es ist daher überraschend, dass es bei ihr keine Auseinandersetzung damit gibt, wie Arbeitermacht durch den Aufbau einer politischen Arbeiterbewegung aufgebaut werden kann. Oder mit der Notwendigkeit für Arbeiter*innen, ihre Interessen zu verallgemeinern durch den Aufbau einer eigenen politischen Massenpartei – unabhängig von den rechtspopulistischen, anti-gewerkschaftlichen Republikanern und unabhängig von den Wall-Street-nahen Demokraten.
Um eine mächtige Arbeiterbewegung wieder aufzubauen, wird es keine Abkürzungen geben – es wird den Wiederaufbau einer lebendigen sozialistischen Strömung erfordern, die eine Alternative zum Kapitalismus zu popularisieren in der Lage ist.
Unabhängig von diesen Leerstellen steht außer Frage, dass »No Shortcuts« eine gelungene Kritik an der bankrotten Politik ist, die die Arbeiterbewegung und die breitere Linke dominiert. Das Buch ist eine starke Intervention im Namen eines radikal anderen Modells der Massenorganisierung, das auf Klassenkampfmethoden basiert und das die Arbeiter*innen in den Mittelpunkt stellt. Es verdient es, von Zehntausenden der neuen Generation von Arbeiter*innen, Streikaktivist*innen, aber auch Bernie- und DSA-Organizern*innen gründlich gelesen und diskutiert zu werden.
Der Artikel ist Teil der Mai-Ausgabe des Magazins „Lernen im Kampf“, das hier bestellt werden kann.
Die deutsche Übersetzung von Jane McAleveys Buch, »Keine halben Sachen«, kann man sich hier als PDF herunterladen: tinyurl.com/KeineHalbenSachen