Ist es möglich, bei Amazon eine Gewerkschaft zu bilden?
von einer Beschäftigten in einem Amazon-Logistikzentrum in den USA
Dies ist ein Artikel der Februar-Ausgabe unseres neuen Magazins. Hier kannst du es erwerben.
In Seattle im US-Bundesstaat Washington befindet sich der Hauptsitz von Amazon. Ich arbeite in einem Logistikzentrum etwas außerhalb von Seattle. Hier fühlt es sich so an, als sei die Konzernstadt Seattle mit all ihren Großunternehmen hunderte von Meilen entfernt.
Unsere Schichten bestehen aus einer Serie von Kommandos, die schmierig getarnt als anfeuernde Worte daher kommen, aus abwertenden Kommentaren des mittleren Managements und aus dem Versuch, freundliche Konversationen einzuschmuggeln, während man sich durch den Dschungel aus hohen, mit Paketen gefüllten Karren kämpft, die bis 20 Uhr bei jemandem zu Hause ankommen müssen.
Die meisten meiner Kolleg*innen haben zwei Jobs: als Elektriker*innen, Apothekenhelfer*innen, Fahrer*innen, Reinigungskräfte und – obendrauf noch – als alleinerziehende Mütter. Die meisten sprechen mehrere Sprachen, inklusive Englisch. Dennoch werden sie behandelt, als seien sie blöd.
Kürzlich blieben meine Kolleg*innen und ich länger, um bei einer großen Anlieferung zu helfen, die sortiert werden musste. Das bedeutet, tausende von Paketen aus einem Laster zu nehmen, sie zu scannen und auf Fahrzeuge zu sortieren, die dann von Fahrer*innen ausgeliefert werden. Während wir schwitzend übereinander stolperten und versuchten, mit unseren Armen über- und untereinander durchgreifend, irgendwie die Pakete schnell zu packen, stand ein Manager hinter uns, seine Arme überkreuzt. Er forderte uns auf, schneller zu arbeiten. Ein anderer starrte gleichzeitig auf die Zahlen auf seinem Laptop.
Eine meiner Kolleg*innen, Renee, und ihre zwei Töchter sind gezwungen, mit Renees gewalttätigem Ex-Ehemann zusammenzuleben. Denn mit 300 Dollar pro Woche, die wir Saisonkräfte verdienen, ist es einfach nicht drin, auszuziehen und Miete zu zahlen. Renee versuchte jeden Tag, extra Stunden zu arbeiten, um Geld für eine Kaution zurückzulegen. Doch immer wieder, mehrere Tage die Woche, werden wir »freiwillig« nach Hause geschickt.
»Freiwillige« Zeit ohne Arbeit
»Voluntary Time Off«, VTO, »freiwillige Zeit ohne Arbeit«, wurde eingeführt, nachdem »Mandatory Time Off«, die »angeordnete Zeit ohne Arbeit«, Amazon einiges an schlechter Presse eingebracht hatte. Aber die VTO ist kaum freiwillig. Wenn wir uns weigern, VTO anzunehmen, dann wird uns mit Verwarnung gedroht, sollten wir dabei erwischt werden, nichts zu tun. Aber was sollen wir tun, wenn es da keine Arbeit gibt? Wir werden gezwungen, das zu akzeptieren.
Eine Schicht zu verlieren, bei 300 Dollar pro Woche, heißt dann zum Beispiel für Renee eine weitere Woche mit blauen Flecken. Oder für meine Kollegin Hani kein Bettgestell, da sie aktuell auf einer Matratze auf dem Boden schläft, während ihre kleinen Kinder eingewickelt auf dem Sofa liegen.
Meine Kolleg*innen sind nicht zufrieden mit ihren Löhnen, nicht damit, wie man mit uns umgeht oder wie wir im amerikanischen Kapitalismus behandelt werden, der so ganz andere Versprechungen macht. Doch die Idee, dass sich etwas ändern könnte, erscheint weit weg.
Kleine Schritte der Solidarität
Dennoch haben wir vor einigen Wochen einen kleinen Schritt für uns selbst gemacht. Wir hatten das Gefühl, dass wir tatsächlich etwas für Renee tun könnten. Wir organisierten eine Art multikulturelles Picknick in unserem Pausenraum, wo jede*r etwas mitbrachte. Es gab somalische Sombosas, lateinamerikanische Ceviche, jüdische Rinderbrust, US-amerikanische Cupcakes und – am wichtigsten – eine unerlaubte Spendenaktion. Unter den 40 Beschäftigten sammelten wir 700 Dollar. Genug für die Kaution für ein Zimmer außer Reichweite von Renees gewalttätigem Ex-Mann.
Das war noch keine Gewerkschaft. Aber es ging um Solidarität. Darum, mit der Ungerechtigkeit umzugehen. Und darum, in eine gemeinsame Zukunft zu investieren. Es ging darum, Beziehungen aufzubauen. Und damit um die Macht der Möglichkeit, etwas zu verändern.
Organizing
Es ist eine große Herausforderung, in einem Amazon-Logistikzentrum eine Gewerkschaft aufzubauen. Die Zentren sind zu groß. Es ist schwierig, mit Kolleg*innen zu reden. Harte körperliche Arbeit bedeutet, dass viele versuchen, so schnell wie möglich eine bessere Arbeit zu finden und dann weg sind. Saisonarbeit heißt, dass viele keine Möglichkeit haben, länger zu bleiben. Selbst wenn es gelingen sollte, ein Logistikzentrum zu organisieren – Amazon hat das alles so organisiert, dass kein Verteilzentrum unersetzlich ist, sondern zahlreiche freie Kapazitäten bestehen. Und am schlimmsten: Beschäftigte – nicht nur bei Amazon – haben sich daran gewöhnt, unter schlechten Bedingungen zu arbeiten.
Und trotzdem ist es inspirierend zu sehen, dass am »Black Friday« (dem Beginn der Weihnachtsverkäufe) tausende Amazon-Beschäftigte in Spanien, Polen, Großbritannien und Deutschland gestreikt haben. Das waren keine Massenstreiks, aber weltweit wurde davon Notiz genommen.
Darauf folgend zwang eine Gruppe von Kolleg*innen im US-Bundesstaat Minnesota, vor allem somalisch-amerikanische Beschäftigte, die Chefs von Amazon an den Verhandlungstisch. Das war das erste Mal, dass dies gelang. Sie hielten kleine Proteste ab, bei denen sie sich über die Arbeitshetze beschwerten, und kritisierten, keine adäquaten Möglichkeiten zu bekommen, ihre Religion auszuüben.
Internationale Inspiration
Als dann Amazon kleinere Zugeständnisse anbot, realisierten diese Kolleg*innen, dass sie – solange sie vereint sind – Amazon wirklich zum Zuhören zwingen können. Sie erreichten ausgewiesene Gebetsräume und eine geringere Arbeitsbelastung während des Ramadan. Dieser Erfolg ermutigte Beschäftigte in einem New Yorker Logistikzentrum, die Gründung einer Gewerkschaft anzukündigen.
Bei all dem spielen die internationalen Proteste, nicht nur bei Amazon, sondern auch bei anderen Tech-Giganten, eine wichtige Rolle. So wurde beispielsweise mit Interesse verfolgt als Tausende bei Google von Singapur und Hyderabad über Berlin und London bis Chicago, Seattle und New York im November die Arbeit niederlegten, um gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz zu protestieren.
Meine Kolleg*innen und ich sehen die Ungerechtigkeiten sehr klar. Wir verdienen kaum genug zum Überleben und gleichzeitig scheffelt der Konzern Milliarden. Aber wir müssen uns gegenseitig davon überzeugen, dass wir das verändern und gemeinsam Handeln können. Um diese kollektive Macht aufzubauen, müssen wir in den Pausenräumen quer über die USA diskutieren, was anders laufen soll. Zum Beispiel, wenn jede*r etwas zu einem gemeinsamen Picknick mitbringt.
Das Selbstbewusstsein, das wir gewinnen, die Erfolge, die wir erzielen, die Erwartungen, die wir vergrößern – das sind Schritte zu einer Gewerkschaft, die wir bei Amazon aufbauen werden.
Der Name der Beschäftigten ist der Redaktion bekannt.
Ein Gedanke zu „Eine Art Picknick“
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