Betrieb und Gewerkschaft, Kommentar

Systemwechsel nötig

Verdi fordert Aufwertung der Altenpflege

von Daniel Behruzi

Wenn Gewerkschaften Tarifforderungen stellen, tun sie das in erster Linie für ihre Klientel. Die materielle Lage und die Arbeitsbedingungen der (potentiellen) Mitglieder sollen sich verbessern, dafür sind Gewerkschaften da. Doch nicht selten geht es in Tarifauseinandersetzungen um mehr als die unmittelbaren Interessen der Beschäftigten.

Manchmal betreffen sie Zukunftsfragen der gesamten Gesellschaft. Wohl nirgends gilt das mehr als in der Altenpflege, wo Verdi Verhandlungen mit den Wohlfahrtsverbänden über einen Tarifvertrag aufnehmen will, dessen Regelungen dann auf das gesamte Arbeitsfeld ausgedehnt werden sollen. Das ist nicht nur im Sinne der Beschäftigten insbesondere privater Anbieter, die vielfach mit Hungerlöhnen abgespeist werden. Die finanzielle Aufwertung der Pflegearbeit ist auch eine dringende Notwendigkeit für uns alle.

Die Verdi-Bundestarifkommission, in der Pflegekräfte von Einrichtungen aller Trägerarten vertreten sind, will für Fachkräfte einen Einstiegslohn von mindestens 16 Euro pro Stunde durchsetzen, Pflegehilfskräfte sollen wenigstens 12,84 Euro verdienen. Und zwar bundesweit, ohne Schlechterstellung ostdeutscher Beschäftigter. Hinzu kommen 30 Urlaubstage im Jahr und – das ist besonders wichtig – die Forderung, dass keine Pflegekraft auf ihrer Station mehr allein arbeiten muss.

Was geschieht, wenn sich Verdi mit diesen Forderungen nicht durchsetzt? Wenn es die kommerziellen Firmen und ihr Verband BPA doch noch schaffen, die flächendeckende Tarifbindung zu verhindern und ihr profitables Geschäftsmodell mit Niedriglöhnen aufrechtzuerhalten? Die unmenschlichen Zustände, die heute bereits in vielen Heimen bestehen, würden sich verschärfen und überall Alltag werden. Wenn sich die Attraktivität der Pflegeberufe nicht drastisch verbessert, werden sich in Zukunft nicht mehr genug Menschen finden, die diese Arbeit machen wollen. Schon jetzt bahnt sich ein Mangel an Fachkräften an, der sich spürbar auf die Versorgungsqualität auswirkt.

Die Auseinandersetzung um flächendeckend gute Tarifverträge in der Altenpflege – die für alle Beschäftigtengruppen und sowohl in ambulanten als auch stationären Einrichtungen gelten – ist daher eine zutiefst gesellschaftspolitische. Nicht nur die Verbände, sondern auch die Regierenden stehen in der Verantwortung, ihre Versprechen umzusetzen. Und weitergehende Reformen einzuleiten. Denn im derzeitigen Finanzierungssystem müssten die Pflegebedürftigen und ihre Familien für die absehbaren Kostensteigerungen aufkommen. Dabei sind viele mit ihren Eigenbeiträgen schon jetzt überfordert.

Nötig ist ein Systemwechsel. Eine Pflegeversicherung, die nur Teile des Pflegerisikos absichert, ist unzureichend. Alle Einkommensarten – vor allem Gewinne aus Unternehmen und Spekulation – müssen in die Finanzierung des Sozialsystems einbezogen werden. Grundlegende politische Konflikte stehen an.

zuerst erschienen in der „jungen Welt“ vom 21.1.19