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Keine Klasse ohne Kampf

Linkspartei-Chef: Erst in kollektiven Auseinandersetzungen entwickeln die Arbeiter ein Bewusstsein ihrer gemeinsamen Interessen

von Daniel Behruzi

Bernd Riexinger: Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt Herrschaft der Wenigen. VSA, Hamburg 2018, 160 Seiten, 14,80 Euro

Es sind die alten und zugleich aktuellen Grundfragen linker Politik, mit denen sich der Linke-Vorsitzende Bernd Riexinger in seinem Buch »Neue Klassenpolitik« beschäftigt: Gibt es die Arbeiterklasse als potentiell gesellschaftsveränderndes Subjekt (noch)? Wie kann sie von der »Klasse an sich« zur ihrer Stellung und historischen Aufgabe bewussten »Klasse für sich« werden? Und was ist mit anderen Merkmalen, nach denen sich Menschen definieren und definiert werden – etwa Herkunft, Geschlecht, sexuelle Orientierung –, was mit den daraus abgeleiteten, besonderen Unterdrückungs- und Machtverhältnissen? Nur »Nebenwidersprüche«, die vom eigentlichen Klassenkampf ablenken, oder integraler Bestandteil desselben? Riexinger gibt darauf differenzierte Antworten und entwirft das Konzept einer »verbindenden Klassenpolitik«, das Spaltungen überwinden helfen und die soziale Frage in den Mittelpunkt rücken will.

»Wer vor dem Neoliberalismus an Klassenkampf dachte, hatte eher Stahl- und Industriearbeiter vor Augen. Heute sind die Gesichter der sozialen Kämpfe weiblicher und migrantischer geworden«, schreibt Riexinger, der als ehemaliger Gewerkschaftssekretär viele Streiks von Beschäftigten im Einzelhandel, in Krankenhäusern und Kitas organisierte. Aus diesen Erfahrungen hat er die Schlussfolgerung gezogen: »Wer heute Klassenkampf von unten organisiert, der darf diese Menschen, diese Berufsgruppen nicht (mehr) als ›strategische Anhängsel‹ des industriellen Proletariats sehen.«

Die Zusammensetzung der Arbeiterklasse habe sich in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt: Auf der einen Seite steige der Anteil höher qualifizierter Beschäftigter und Angestellter, auf der anderen nehme prekäre Beschäftigung in Leiharbeit, Werkverträgen und erzwungener Teilzeit zu. »Die vielfältige Spaltung, Fragmentierung und Prekarisierung kann von den Beschäftigten und Erwerbslosen ganz verschieden verarbeitet werden«, betont Riexinger. Es könne »übergreifende Solidarität, konkrete Kämpfe und kollektive Auseinandersetzungen als fortschrittliche Antwort geben«. Häufig sei jedoch das Gegenteil der Fall: »Dann überwiegt die Abgrenzung gegenüber anderen Gruppen von Beschäftigten oder Erwerbslosen.«

Zentrale Aufgabe von Linken und Gewerkschaftern ist für Riexinger, ersteres zu befördern – und zwar möglichst konkret, indem diese verbindende Kämpfe organisieren. Denn Klassenbewusstsein entwickelt sich vor allem in der kollektiven Praxis: »Kampferfahrungen (…) sind eine Voraussetzung dafür, dass sich die Beschäftigten als Teil einer Klasse mit gemeinsamen Interessen begreifen.« Und damit sind nicht nur Arbeitskämpfe gemeint, sondern auch »lebensweltliche« Auseinandersetzungen wie Proteste für bezahlbaren Wohnraum und gute Kinderbetreuung.

Wenn Riexinger von einer »verbindenden Klassenpolitik« schreibt, richtet sich das auch gegen diejenigen Kräfte der Linken, die eine Begrenzung von Arbeitsmigration zum Schutz einheimischer Beschäftigter fordern: »Wenn aufgrund der Verteilungsverhältnisse im Land die sozialen Kosten für Geflüchtete den Menschen zugemutet werden, die schon sozial schlecht gestellt sind, kann die linke Antwort nur sein, die Verteilungsverhältnisse zu ändern, nicht aber, die Grenzen zu schließen. Denn die Menschen, die sozial schlechter gestellt sind, werden auch dafür den Preis zahlen.«

An dieser Stelle wirft Riexinger eine wichtige Frage auf, die der rein moralisch begründete Antirassismus zumeist nicht stellt: Wer zahlt für die Kosten der Migration? Leider belässt er es bei dieser Andeutung, was ein Defizit der linken Debatte widerspiegelt. Dass die Aufnahme geflüchteter Menschen nicht zum Nulltarif zu haben ist, wird nur von Rechten thematisiert. Die Linke sollte das nicht verschweigen und offensiver einfordern, dass die Konzerne dafür aufkommen. Schließlich tragen sie einen Großteil der Verantwortung für Kriege, Armut und Vertreibung, wegen denen Menschen ihre Heimat verlassen.

Die Auseinandersetzungen in der Linkspartei um die Frage der Migration ist Teil einer größeren Debatte über das Verhältnis von Identitäts- und Klassenpolitik. Vehement wendet sich Riexinger dagegen, »den Einsatz für Minderheiten gegen die Klassenfrage auszuspielen«. Beides gehöre zusammen: »Die Kämpfe gegen rassistische Gewalt und Gewalt gegen Frauen, für das Bleiberecht für alle Verfolgten und für geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung gehen nicht nur die Betroffenen an. Sie sind Teil des Klassenkampfes – der einen wie der anderen Seite.«

Hier wie an vielen anderen Stellen des Buchs argumentiert Riexinger vor allem in Richtung der Fraktionsvorsitzenden Sahra Wagenknecht. Wobei er offenbar ihren Appell teilt, die Linkspartei dürfe sich nicht mit ihrem Nischendasein zufriedengeben: »Gerade angesichts der tiefen Krise der Sozialdemokratie und des Aufstiegs reaktionärer Kräfte dürfen wir uns nicht in der Position einer Zehn-Prozent-Partei einrichten oder uns als untergeordneter Teil eines ›rot-rot-grünen‹ Lagers verstehen.« Spätestens hier wäre deutliche Kritik in eine andere Richtung angebracht, zumal Riexinger erklärt, eine linke Regierung sei »durchaus eine Perspektive«: Wie passt die Politik linker Regierungsfraktionen zu der skizzierten »verbindenden Klassenpolitik«? Wo ist in Berlin, Brandenburg oder Thüringen der grundlegende Politikwechsel erfolgt, den Riexinger auf die Agenda setzt? In dieser Frage sucht man eine klare Positionierung, wie er sie sonst vorbringt, leider vergebens.

zuerst erschienen in der „jungen Welt“ vom 24.12.18