Beide sogenannten „Sammlungsbewegungen“ sind in einem besonderen Kontext entstanden. Die France insoumise ist 2016 von Jean-Luc Mélenchon und seinen Getreuen von der Linkspartei (Parti de Gauche) gegründet worden für die Präsidentschaftswahlen 2017. Diese Sammlungsbewegung funktioniert Dank einer Internetplattform. Ihre Gründer sagen, dass die alten Parteistrukturen mit ihren Mitgliederversammlungen und Wahlen passé seien. Die Bewegung soll „horizontal“ funktionieren, die Leute können sich über das Internet mit einem Klick einschreiben und bei Kreisen, die Stadtviertel oder Arbeitsbereiche einschließen, mitmachen.
von A.V., Marseille
Die Bewegung gibt an, über 580.000 Mitglieder zu haben (Stand Juli 2018). De facto gibt es keine demokratischen Strukturen innerhalb der France insoumise. Wahlen werden als „Spaltung“ in „Mehrheit und Minderheit“ beschrieben. So gibt es keine demokratischen Entscheidungen über die politische Linie und darüber, wer sie vertreten soll. Konkret heißt das, dass es ungefähr ein Mal pro Jahr Versammlungen gibt, bei denen über die Programme diskutiert wird. Doch ihre Teilnehmer werden ausgelost. Die Themen, die dort behandelt werden, sind von den Mitgliedern über die Internetplattform zuvor angegeben worden. Eine Kontrolle über die letztendliche Auswahl dieser Themen, die bei den Versammlungen diskutiert werden, gibt es nicht.
Diese Form der Organisation, die sich ganz bewusst von der Parteiorganisation abgrenzen will, ist im Grunde der Bewegung des französischen Präsidenten Emmanuel Macron sehr ähnlich. Auch seiner „Bewegung“, der République en marche, der „vorangehenden Republik“, kann jeder per Internet beitreten und in Kreisen Politik in einem von oben bestimmten Rahmen machen, das heißt, mit Themen, die vom Führungskreis der Bewegung bestimmt worden sind.
Das Entstehen der Bewegung France insoumise ist die Folge der Niederlagen linker Parteien in Frankreich, insbesondere des „Front de Gauche“, also der Allianz zwischen der Kommunistischen Partei (PCF) und der Linkspartei, der 2009 als Abspaltung aus der französischen SPD, der Parti socialiste, entstandenen Parti de Gauche. Die Niederlagen im Organisieren von Klassenkämpfen – wie zuletzt gegen die Flexibilisierung des Arbeitsrechts im Jahre 2017 oder auch zuvor bei den vielen Werksschließungen – haben zu einer Abkehr der Arbeiter und der Mittelschichten von KP oder Linkspartei geführt.
Zeitgleich gab es (und gibt es weiterhin) unterschiedliche Allianzstrategien bei den Wahlen. Während die Kommunistische Partei in einigen Städten mit den Sozialdemokraten regierte (zum Beispiel in Paris), wollte die Linkspartei von Mélenchon nichts davon wissen. Diese zumindest zum Teil sektiererische und zerstörerische Haltung der damaligen Linkspartei gibt es noch heute in der France insoumise, die angibt die einzige oppositionelle politische Kraft zu Macron zu sein. Anstatt an der Einheit der Arbeiterklasse gegen Macron zu arbeiten, versucht Mélenchon, die anderen linken Organisationen an den Rand zu drängen.
Nach den Präsidentschaftswahlen von 2012 konnte sich der „Front de Gauche“ nicht zu einer neuen linken Partei entwickeln wie in Deutschland die Linkspartei, die aus der WASG und der PDS im Jahre 2007 hervorgegangen war. Dazu waren die Allianzstrategien der KP und der Linkspartei zu unterschiedlich, auch wollte die KP ihre Strukturen nicht aufgeben.
Schließlich ist die France insoumise auf den Trümmern des „Front de Gauche“ entstanden, gewissermaßen also auch auf den Trümmern der Arbeiterbewegung. Wobei zwei entgegengesetzte Tendenzen zum Ausdruck kommen: Der Erfolg von Mélenchon bei den Präsidentschaftswahlen von 2017 hat gezeigt, dass sein Programm für eine gewisse Umverteilung des Reichtums von oben nach unten Anklang bei Arbeitern findet, sie haben massiv France insoumise gewählt. Gleichzeitig kann die aktuelle Organisationsform der France insoumise wahrscheinlich nur zu einem Abklingen der Mobilisierung von Arbeitern und der Mittelschicht führen. Denn das Mitbestimmungsrecht in dieser Bewegung wird zu wenig respektiert, was die Entwicklung dieser Bewegung hemmt und damit auch die Entwicklung eines politischen Instruments für die Arbeiterklasse.
Sich am Beispiel von France insoumise orientierend, ist in diesem Sommer von Sahra Wagenknecht und anderen Gefolgsleuten aus der Linkspartei in Deutschland eine Sammlungsbewegung ins Leben gerufen worden: Aufstehen. Wie bei der France insoumise soll eine Internetplattform die politischen Aktivitäten der Menschen vereinfachen, es soll keine Partei sein, sondern eine Bewegung, der alle – Parteimitglieder und Parteilose – beitreten können. Auch hier ist die Entscheidung, diese Bewegung zu gründen, gefallen, weil die Linkspartei in Umfragen und bei Wahlen selten über 10 Prozent hinauskommt. Daraus wurde geschlussfolgert, dass ein anderes Organisationsmodell her muss, eine sogenannte offene Bewegung. Auch hier stellen sich jedoch ähnliche Fragen wie bei der France insoumise: Welche demokratischen Strukturen gibt es innerhalb der „Sammlungsbewegung“? Wer bestimmt die politischen Themen, die Kampagnen? Und wie werden die Vertreter dieser Bewegung bestimmt?
Zusammengefasst sind die France insoumise und Aufstehen in Situationen gegründet werden, in denen die eigentlich nicht so alten linken Parteien es nach der Wirtschaftskrise seit 2008 nicht geschafft haben, Arbeiter massenhaft zu organisieren.
Ihr Programm und die Migrationsfrage
In ihren Programmen geben beide Formationen an, für eine gerechtere Verteilung des Reichtums einzutreten. La France insousmise ist für eine „Steuer der Transaktionen“ an den Börsen und die „Beschlagnahmung der für das allgemeine Interesse wichtigen Betriebe“. Aufstehen schreibt: „Eigentum verpflichtet, es soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (und zitiert damit das deutsche Grundgesetz). Die „Bewegung“ will auch für höhere Löhne und Renten sowie gerechtere Steuern kämpfen. Sowohl France insoumise als auch Aufstehen wollen den arbeitenden Menschen bessere Lebensbedingungen garantieren. Das ist sehr positiv.
Beide kritisieren desweiteren die Globalisierung und die Eliten – und sprechen von unkontrollierter Migration. Sie wollen das Sprachrohr der Sprachlosen sein, die Forderungen der arbeitenden Menschen auf die Straße bringen. Es wird jedoch nicht angegeben, wie diese Ziele erreicht werden sollen. Wie soll es zu einer gerechteren Verteilung des Reichtums kommen? Oder: Wie soll das Recht auf Asyl für Flüchtlinge garantiert werden? Wer soll ein Recht auf Asyl bekommen? Nur politische Flüchtlinge? Oder auch „Wirtschaftsflüchtlige“? Und wo und wie wird die Grenze zwischen diesen beiden Kategorien gesetzt?
In ihrer Gründungserklärung schreibt die Aufstehen-Bewegung dass „der Hauptgrund für Zukunftsängste die Krise des Sozialstaats und globale Instabilitäten und Gefahren sind: Die Flüchtlingsentwicklung hat zu zusätzlicher Verunsicherung geführt. Übergriffe auf Menschen aufgrund ihres Aussehens oder ihrer Religion häufen sich. Wir lehnen jede Art von Rassismus, Antisemitismus und Fremdenhass ab. Gerade deshalb halten wir die Art und Weise, wie die Regierung Merkel mit den Herausforderungen der Zuwanderung umgeht, für unverantwortlich. Bis heute werden Städte, Gemeinden und ehrenamtliche Helfer weitgehend allein gelassen. Viele bereits zuvor vorhandene Probleme wie der Mangel an Sozialwohnungen, überforderte Schulen oder fehlende Kita-Plätze haben sich weiter verschärft. Am Ende leiden vor allem die ohnehin Benachteiligten.»
Es wird jedoch nicht erklärt, warum der sogenannte „Sozialstaat“ in die Krise gerät, warum es zu mehr „globale[n] Instabilitäten“ kommt. Dieser Absatz der Gründungserklärung besagt, dass Einwanderung das Leiden der „ohnehin Benachteiligten“ verschuldet.
Auch die France insoumise ist gegen die Freiheit der Menschen, dort zu leben, wo es für sie die besseren Lebensbedingungen gibt. Mélenchon und der LFI-Abgeordnete Adrien Quatennens erklären, dass sie gegen die „Installations-Freiheit“ seien, also de facto gegen die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen.
Welche konkreten Konsequenzen hat diese politische Idee? Sie geht vom Prinzip aus, dass man die Flüchtlinge kontrollieren kann und muss. Daraus folgt, dass man die Grenzen der Länder kontrollieren müsse, dass es zu viele Einwanderer gebe. Man nimmt damit die Militarisierung der Grenzen und das Sterben von Migranten beim Versuch, die Grenzen auf der Suche nach besseren Arbeits- und Lebensbedingungen zu durchschreiten, in Kauf.
Die Migrationsfrage scheint für Teile der Linken zweitrangig zu sein. Sie ist es jedoch nicht. Wenn Vertreter politischer Bewegungen, die als links, also für die Rechte der Arbeiter kämpfend, betrachtet werden, die Rechte von Wanderarbeitern nicht verteidigen, dann bedeutet dies konkret eine Position des Bürgertums – der Herrschenden – zu verteidigen.
Es ist das Bürgertum, die Besitzer der Produktionsmittel und die „Super-Reichen“ unserer Länder, das die „Krise des Sozialstaats“ herbeigeführt hat – unter anderem durch massive legale und illegale Steuerhinterziehung. Es ist dieses Bürgertum, dass durch organisierte Konkurrenz zwischen Arbeitern diese spaltet und die Löhne drückt. Es sind diese Reichen, die die Arbeiter entlassen und mit der Schröder-Regierung für die Einführung von Hartz IV gesorgt haben.
Was die Arbeiterklasse braucht, ist Klarheit in der Einheit gegen das uns ausbeutende Bürgertum, die Bourgeoisie, egal ob wir aus Kamerun, aus Deutschland, Syrien oder aus Frankreich stammen. Der oben zitierte Absatz von Aufstehen aber äfft die AfD nach.
Dem sollten wir entgegensetzen:
– Eine stark progressive Reichensteuer für alle Kapitalanleger und die Abschaffung der Mehrwertsteuer: Das Geld dieser Steuer soll benutzt werden, um einen Mindestmonatslohn von 1.500 Euro zu gewährleisten.
– Die Arbeitszeit der Lohnabhängigen muss radikal gesenkt und die Arbeit verteilt werden.
– Auch superreiche Steuerhinterzieher müssen juristisch belangt, verhaftet, vor Gericht gestellt werden und Haftstrafen abbüßen.
– Gewerkschaften, linke Organisationen, die Linkspartei, Aufstehen in Deutschland können Kampagnen für diese Forderungen führen. Auf europäischer Ebene sind solche Kampagnen ebenfalls nötig.
– Die Teilung der Arbeitsklasse in Einwanderer und Einheimische, mit mehr oder weniger Rechten, macht uns zu Verlierern. Nur wenn Lohnabhängige für gleiche Rechte für alle kämpfen, können sie erfolgreich sein.