Ein Diskussionsbeitrag von Joachim Geyber und Pablo Alderete (Redaktionsmitglied von „Lernen im Kampf“), Stuttgart
1. Das knappe, aber mehrheitliche Votum der Briten für den Austritt aus der Europäischen Union hat die Krise der EU verschärft und erschüttert zur Stunde die Tories wie auch die Labour Party. Die politische Linke hat sich in dieser Frage sowohl in Großbritannien als auch international unterschiedlich bis gegensätzlich positioniert. Wie in einem Brennglas sind hier all die komplizierten Entwicklungen gebündelt, mit denen Linke, GewerkschafterInnen und SozialistInnen gegenwärtig zu kämpfen haben: die tiefste Krise des kapitalistischen Systems seit den Dreißigern, eine ideologische Krise im Establishment (welcher Richtung soll das politisch-ökonomische System folgen?), und auch die eklatante Schwächung der Arbeiterklasse in Sachen Bewusstsein, Organisation und den Kräften des Marxismus. Gleichzeitig gibt es in vielen Ländern immer wieder Mobilisierungen von unten, eine Offenheit für linke Formationen – aber parallel dazu wieder und wieder Ereignisse, die reaktionäre populistische Tendenzen und Parteien als Nutznießer und fatalerweise als vermeintliche Opposition zum bürgerlichen Establishment erscheinen lassen.
2. Was sind die vorherrschenden Charaktermerkmale der EU? Wie hat sie begonnen? Am Anfang, in den fünfziger Jahren, stand die Montanunion. Damit war sie vom ersten Tag an ein Projekt zunächst primär der Stahl- und Kohlebosse, später generell der gewichtigsten Kapitaleigner Europas. Die treibenden Kräfte zielten auf die Schaffung eines europäischen Wirtschafts- und Handelsblocks ab, der sich im globalen Konkurrenzkampf gegen die Ökonomien in Nordamerika und Asien behaupten konnte.
Im Unternehmerlager selbst waren und sind es die Vorstände der Großkonzerne und der Banken, die der EU ihren Stempel aufdrückten – und die sich der EU bedienten, und dabei Kleinunternehmer und Teile des sogenannten Mittelstand an die Wand drückten. Lange zeigte sich das gerade in der Landwirtschaft, wo das Agro-Business seine Stellung zuungunsten kleinerer Betriebe ausbaute.
Die Einführung des Euro zementierte dies weiter. Alles unter der Führung des Großkapitals – an vorderster Stelle der deutschen Bourgeoisie. Mit „Völkerverständigung“ und Internationalismus hatte die EU letztlich nur zum Schein etwas zu tun. Auch wenn Reisefreiheit und länderübergreifende Kooperationen – gerade im Bildungsbereich – mehrere Generationen von Jugendlichen prägten. Und dies ist sicherlich auch eine der Erklärungen dafür, dass viele britische Jugendliche für einen Verbleib in der EU stimmten. Die EU ist, wie DIE LINKE es einmal formuliert hat, militaristisch, undemokratisch und neoliberal.
Natürlich kann die Alternative zum EUropa der Banken und Konzerne nicht in einer Fortexistenz von Nationalstaaten auf kapitalistischer Basis bestehen – sondern nur in einem Europa von unten, in der letztlichen Umwälzung der Macht- und Eigentumsverhältnisse hin zu einer freiwilligen demokratischen sozialistischen Föderation von Staaten in Europa.
3. Bei der Auseinandersetzung um den Brexit waren sehr verschiedene Faktoren am Werk. MarxistInnen versuchen, alle Phänomene in ihrer Widersprüchlichkeit zu erfassen und herauszuarbeiten, was dominant und was nachrangig ist. Auf Großbritannien und den Brexit bezogen, war die Stimmung vieler ArbeiterInnen und von Teilen der Mittelklasse vorherrschend, mit einem Votum für den EU-Austritt der Tory-Regierung einen Schlag zu versetzen. Premier Cameron verband seine politische Zukunft mit dem Erfolg des „Remain“-Lagers und nahm folgerichtig seinen Hut nach der Niederlage.
Viele ArbeiterInnen und Arbeitslose in Großbritannien haben die EU in den vergangenen Jahren als eine Vereinigung wahrgenommen, die die Banken aus der Krise boxte. Während dem eigenen Staat die eine oder andere positive Seite abgewonnen werden kann (finanziert, zumindest zum Teil, Schulen und Krankenhäuser oder greift, natürlich viel zu knapp, sozial Schwachen unter die Arme) – wird die EU bloß als ein Verbund betrachtet, der Gelder abzieht.
4. So wichtig es ist, in jeder Situation die Haupttendenzen herauszuarbeiten, so wichtig ist es auch, einen differenzierten Blick einzunehmen. Äußerungen, die das Brexit-Votum stumpf als einen Grund zur Freude betrachteten, bedeuten leider eine Vereinfachung und Schönfärberei.
Es stimmt nicht, dass sich fast alle Kräfte des wirtschaftlichen und politischen Establishments auf der Insel und in der EU gegen den Brexit vereint hätten. Relevante Kräfte ja, natürlich – ausgedrückt auch im Editorial der Financial Times, in dem für einen Verbleib in der EU plädiert wurde. Gleichzeitig haben sich aber so gut wie alle Boulevardblätter auf die Brexit-Seite geschlagen. Die Tories waren bekanntlich tief gespalten. Wesentliche Protagonisten des Austritt-Lagers stellten der konservative Johnson und der (bisherige) UKIP-Vorsitzende Farage dar.
5. Ebenso wenig trifft es zu, dass DIE arbeitende Bevölkerung ein klares Signal gegen das Kapital in Europa ausgesendet hätte. Zwar gab es in den meisten Arbeitervierteln von England Brexit-Mehrheiten, aber unter den Jugendlichen sah es komplett anders aus. In London war die Stimmung uneinheitlicher, in Schottland und in Nordirland gab es Mehrheiten für einen Verbleib in der EU.
Die öffentliche Debatte wurde von rechtspopulistischen und chauvinistischen Kräften dominiert, deren Argumente einen großen Raum einnahmen. Festzuhalten ist jedenfalls ein qualitativer Unterschied zum „Oxi“ -Referendum in Griechenland vor einem Jahr, das als weitgehend linke Kampagne gesehen wurde.
6. Unterm Strich war ein Referendum zur EU, sei es „Leave“ oder „Remain“, nichts, was SozialistInnen offensiv hätten fordern sollen.
Konfrontiert mit der Durchführung einer solchen Abstimmung konnte man jedoch nicht „neutral“ sein. Von einer Enthaltung hätte in der Konsequenz das „Remain“-Lager profitiert. Und von einer Mehrheit für „Remain“ hätten die Cameron-Regierung und die EU unter Merkel & Co profitiert. Letztendlich war aus den genannten Gründen die Unterstützung eines Brexits – verbunden mit antikapitalistischen und sozialistischen Forderungen – richtig. Für Jubelei nach dem knappen Ergebnis besteht jedoch kein Grund.
7. Hat der „Brexit“ zu mehr Rassismus geführt? Machen sich Linke, die für „Leave“ eintraten, hiermit gemein?
Zu dieser Frage ist dem Parteivorstand der LINKEN in seiner Resolution zum Thema beizupflichten: „Rassistische Übergriffe nach dem Referendum müssen entschlossen bekämpft werden. Doch Rassismus ist nicht ursächlich durch den Brexit entstanden, sondern wurde jahrelang von der Regierung Cameron betrieben, der zum Beispiel die Sozialleistungen für Migrantinnen und Migranten abgesenkt hat. Rechte Teile beider Seiten haben in der Referendumskampagne zu einem weiteren Anstieg von Rassismus beigetragen und der Ausgang wird von Rechten nun genutzt, um gegen polnische Mitbürgerinnen und Mitbürger rassistische Hetze zu betreiben. Wir stehen in internationaler Solidarität gegen jede Form von Rassismus. Die rechten Parteien in Europa, wie UKIP, sind auch deshalb entstanden, weil die EU statt die nationale Beschränktheit tatsächlich zugunsten einer grenzüberschreitenden, solidarischen Gesellschaft aufzuheben, nur einen bürokratischen, undemokratischen Überbau zur Regelung der Binnenmarktinteressen der Banken und Konzerne geschaffen und stetig aufgebläht hat.“
8. Einige UnterstützerInnen des Blogs „Lernen im Kampf“ sind Mitglieder der Antikapitalistischen Linken (AKL) oder stehen der AKL nahe. So sehr deren grundlegender Positionierung zuzustimmen ist, so falsch (wenn nicht sektiererisch) sind allerdings Passagen der Erklärung des AKL-Sprecherrats, die da lauten: „Wer bei dieser Abstimmung zuhause geblieben ist, sich enthalten oder mit Ja gestimmt hat, der oder die hat einen schweren Fehler und sich gemein mit der herrschenden Elite des kapitalistischen Europas und seiner aktuellen Politik gemacht.“ Und: „Aber es soll Leute geben, die hartnäckig behaupten, diese grundsätzliche Ausrichtung der EU könne durch Mitgestaltung, innere Reformen und Internet-Aufrufe von Intellektuellen gebremst und umgedreht werden. Wir sind es leid, darüber zu diskutieren, weil die Geschichte sich leider weiter entwickelt hat: Die EU hat ihre Unschuld verloren.“
9. Teilen der Arbeiterklasse Vorhaltungen zu machen oder „es leid“ zu sein, um die Köpfe zu kämpfen, ist die Haltung derjenigen auf der Linken, die sich von der Übergangsmethode entfernt haben. Es ist heute nötiger denn je, ausgehend von der Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus, wie der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Lenin meinte, „geduldig“ Forderungen zu formulieren und zu erklären, die am Bewusstsein anknüpfen und mittels bestimmter Vorschläge dazu beitragen das Bewusstsein zu heben.
10. Manche Linke meinten, für den Verbleib in der EU eintreten zu müssen, weil ein Rückfall in die Nationalstaatlichkeit weiter weg führen würde von einem sozialistischen Staatenbund. Das halten wir nicht für nachvollziehbar. Die kapitalistische Globalisierung hat uns in den letzten 20 Jahren globaler Kooperation im sozialistischen Sinne auch nicht näher gebracht.
Wie steht es mit Forderungen zur Demokratisierung der EU? Für das Gros der Arbeiterklasse ist Brüssel ein bürokratischer Moloch. Demokratischere EU-Institutionen werden als wenig wahrscheinlich, solche Forderungen als kaum attraktiv betrachtet. Bemerkenswert ist auch, dass Portugals Linksblock lange für Euro-Bonds u.a. eintrat, jetzt aber einen Bruch mit dem Euro favorisiert. Alberto Garzon und große Teile der Vereinigten Linken (IU) in Spanien halten die EU inzwischen nicht mehr für reformierbar. Im Übrigen sind dies auch Belege dafür, dass in diesen neuen linken Formationen offene Prozesse stattfinden, wir es mit einem Kampf lebendiger Kräfte zu tun haben. .
11. Jubelgesänge in der Linken „Brexit = Grund zur Freude“ sind deshalb so albern, weil der Brexit in Großbritannien vielfach als Erfolg für Rassisten und Nationalisten gesehen wird. Rassistische Übergriffe haben nach dem Votum zugenommen. Natürlich liegt das nicht zuletzt an der Positionierung von Corbyn und der Labour Party, die Johnson, Farage & Co. das Feld weitgehend überließen, wenn es auch linke Kräfte und Gewerkschaften wie die RMT gab, die gegen die EU und Austerität auftraten. In Deutschland wurde der Brexit als ein Punktsieg für die AfD, in den USA für Trump angesehen.
Die mit der Wirtschaftskrise 2007-09 eingeläutete neue Periode ist geprägt von Versuchen der Arbeiterklasse, ihre eigene Bewegung wieder aufzubauen – dabei werden Ideen, Programme, Personen, Formationen getestet, nach oben gespült, aber auch wieder zurückgedrängt. Am weitesten gingen die Ereignisse bisher in Griechenland mit vielen Generalstreiks und dem Aufstieg von Syriza.
Aktuell nun scheinen – in dieser neuen Periode – vordergründig nationalistische und reaktionäre Kräfte in vielen Ländern Oberwasser zu bekommen. Aber auch jetzt können wir, wenn wir z.B. Frankreich nehmen, zum einen den Aufschwung des FN beobachten, zum anderen eine Streikwelle, die auch von Jugendlichen unterstützt wird, die vermehrt wieder von einer Klassengesellschaft reden. Die Gewerkschaft CGT stellt derzeit ein wesentliches Zentrum für Debatten dar, potenziell auch in Richtung einer neuen Arbeiterpartei.
12. Vor diesem Hintergrund führt der Brexit jedoch auch keineswegs zwangsläufig zu einer Stärkung nationalistischer und rassistischer Kräfte in Großbritannien. Überwiegend wurde dort mit dem Brexit-Votum ein Schlag gegen Austerität, die Cameron-Regierung und die Tories verbunden. Einen vernünftigen Ton schlug Dave Nellist, der Vorsitzende von TUSC (Trade Unionist and Socialist Coalition), Socialist Party-Mitglied und ehemaliger Labour-Parlamentsabgeordneter, einen Tag vor dem Referendum im „neuen deutschland“ an: „Es besteht die Gefahr, dass es – egal welche Seite gewinnt – zu einem Anwachsen von Rassismus und rassistischen Übergriffen kommen wird. Es sieht stark danach aus, dass der Mörder der Labour-Abgeordneten Jo Cox Verbindungen zu extrem rechten Organisationen unterhielt. Im Nachgang des Referendums ist es darum notwendig, dass die ArbeiterInnenbewegung eine starke Kampagne gegen die Tory-Partei, Kürzungspolitik und Rassismus führt. Die Stimme der ‘kleinen Leute’ wurde im Wahlkampf für das Referendum am Donnerstag kaum gehört. Gleichzeitig gab es wachsende Unterstützung für die Exit-Seite. Viele WählerInnen aus der Arbeiterklasse sehen das Referendum als Chance, gegen Cameron, das kapitalistische Establishment und alles zu protestieren, unter dem sie in den letzten Jahren gelitten haben: niedrige Löhne, Prekarisierung, das Fehlen bezahlbaren Wohnraums sowie die Aushöhlung der Daseinsfürsorge.“
13. In Deutschland sollte in der Linkspartei der Slogan „die EU neu starten“ einen Klasseninhalt erhalten und Illusionen in den kapitalistischen Staatenbund sollten argumentativ zurück gedrängt werden.
Entscheidend wird in den kommenden Monaten sein, inwieweit DIE LINKE tatsächlich zum „Motor von Bewegungen“ wird: Immerhin hat DIE LINKE sich u.a. in den Arbeitskämpfen im Einzelhandel, in den Sozial- und Erziehungsdiensten sowie an der Charité engagiert.
Bei der „Erneuerung durch Streik“-III-Konferenz können und werden Aktive aus der LINKEN eine wichtige Rolle spielen. LINKE-Mitglieder sollten einen Beitrag leisten, Lehren aus Kämpfen zu ziehen, Vernetzungen voranzutreiben und Auseinandersetzungen zu politisieren.
14. Wichtig wird gleichfalls sein, wie die Linkspartei weiter in der Flüchtlingsfrage agiert. Ganz oben an steht hier, diese mit der sozialen Frage zu verbinden: Für eine Obergrenze für Reichtum, für eine Sonderabgabe der Vermögenden, gegen ein Unterlaufen des Mindestlohns, für das von Wagenknecht und Bartsch im November formulierte öffentliche Investitionsprogramm von 25 Mrd. Euro für ausreichend bezahlbaren Wohnraum für alle, für Gesundheit und Bildung. Elementar ist aus unserer Sicht allerdings auch, für eine Integration „von unten“, also in die Arbeiterbewegung einzutreten – mit Forderungen wie nach kostenlosen Sprachkursen, Arbeitserlaubnis, Aufnahme in die Gewerkschaften, Schaffung von Gewerkschaftsbüros in Aufnahmeeinrichtungen, Wahl von Delegierten in den Flüchtlingslagern.
15. Die Krise des Kapitalismus – ökonomisch, politisch, sozial – bedeutet keineswegs automatisch eine Stärkung der Arbeiterbewegung. Nationalistische, rassistische und populistische bürgerliche Kräfte werden wiederholt punkten. Um so wichtiger, seitens der Linken positive nachahmenswerte Beispiele zu geben (wie in Deutschland jüngst eben an der Charité), Forderungen und Vorschläge zu machen, die mobilisierendes Potenzial haben und das Bewusstsein heben können, sowie entschlossen Ansätze aufzugreifen, die die Arbeiterbewegung organisatorisch, politisch und ideologisch stärken.
Lesehinweis:
Artikel von Bernd Riexinger vom 14. Juli