Jahresrückblick 2015. Die Arbeitskämpfe des vergangenen Jahres enthalten viele Lehren. Werden sie gezogen, gehen die Gewerkschaften gestärkt aus ihnen hervor.
von Daniel Behruzi
So viel Streik war selten in der Bundesrepublik. Allein für das erste Halbjahr 2015 zählte das neoliberale Institut der deutschen Wirtschaft (IW) rund 944 000 durch Streik »verlorene« Arbeitstage – ein Vielfaches mehr als in den vergangenen Jahren. Auf 1000 Beschäftigte kamen in den ersten sechs Monaten des alten Jahres damit 17 Streiktage. Im internationalen Vergleich ist das zwar immer noch sehr wenig, aber immerhin. 2015 haben die Gewerkschaften wichtige Erfahrungen gesammelt. Davon werden sie in Zukunft profitieren – wenn sie die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.
Im Zentrum der Konflikte des zu Ende gehenden Jahres stand die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Sie war und ist in Arbeitskämpfe ganz unterschiedlicher Art verwickelt: In Defensivkämpfe um den Erhalt bestehender Tarifstandards wie bei der Post und bei Real; in Kämpfe um die tarifpolitische Erschließung »weißer Flecken« wie bei Amazon; in offensive Auseinandersetzungen um die Aufwertung typischer Frauenberufe wie im Sozial- und Erziehungsdienst; und sogar in Tarifkämpfe zur Durchsetzung personeller Mindeststandards wie am Berliner Uniklinikum Charité. So verschieden all diese Auseinandersetzungen auch waren, sie hatten eines gemeinsam: Sie waren extrem langwierig und wurden von den Arbeitgebern mit harten Bandagen geführt.
Das ist auch gleich die erste Lehre aus den Streiks 2015: Die »Konfliktpartnerschaft« – wie der Soziologe Walther Müller-Jentsch die Verhältnisse zwischen Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik einst bezeichnete – hat ihren Charakter geändert. Die »Sozialpartnerschaft« vergangener Tage, die höchstens durch stark normierte und ritualisierte Konflikte unterbrochen bzw. ergänzt wurde, ist passe. Heute muss jede auch noch so kleine Errungenschaft gegen den erbitterten Widerstand der Kapitalbesitzer durchgesetzt bzw. deren Erhalt erkämpft werden. Von den Arbeitgebern werden die Verteilungskonflikte mit aller Härte geführt – inklusive des Einsatzes von Leiharbeitern und Beamten als Streikbrecher sowie von Versuchen, Streiks per Gerichtsbeschluss zu verbieten.
Grundsätzliche Konflikte
Die Entschlossenheit, mit der der Klassenkampf von oben geführt wird, fehlt den Gewerkschaften bisweilen. Vielfach gehen deren Spitzenfunktionäre immer noch davon aus, dass man im üblichen Rahmen schon einen annehmbaren Kompromiss finden wird. Dass das nicht funktioniert, haben die Auseinandersetzungen bei Post, Bahn und Lufthansa sowie im Sozial- und Erziehungsdienst demonstriert. Wochenlang saßen die Arbeitgeber die Streiks einfach aus, selbst wenn sie, wie in den Verkehrsunternehmen, erheblichen wirtschaftlichen Schaden verursachten.
Den Arbeitgebern ging es in diesen Auseinandersetzungen nicht nur um den jeweiligen Verhandlungsgegenstand und damit verbundene Kosten. Sie begriffen sie als grundsätzliche, politische Klassenkonflikte und führten sie entsprechend. Wohl kein Zufall, dass es sich in allen Fällen um öffentliche Einrichtungen oder ehemalige Staatsbetriebe handelte. In der Vergangenheit hätten die Gewerkschaften es als Vorteil gesehen, wenn ihr Gegenüber am Verhandlungstisch politischen Einflüssen ausgesetzt ist. In den genannten Konflikten wirkte das aber offenbar nicht mäßigend, sondern eskalierend: Im Sozial- und Erziehungsdienst sollte eine substanzielle Aufwertung unbedingt vermieden werden, um andere Berufsgruppen wie Pflegekräfte nicht zu einem ähnlichen Vorgehen zu ermutigen. Bei Bahn und Lufthansa ging es im Hintergrund stets auch um Fragen des Streikrechts und darum, ob die Beschäftigten ihre gewerkschaftliche Vertretung frei wählen können.
Konsequenz aus diesen Erfahrungen muss sein, dass auch die Gewerkschaften betriebliche und tarifliche Auseinandersetzungen verstärkt als politische Konflikte begreifen. In deren Politisierung liegt das Potenzial, Streiks für das politische Establishment schmerzvoll werden zu lassen. Wenn die Staats- und Parteifunktionäre eine Weiterentwicklung politischen Bewusstseins und womöglich gar dessen Radikalisierung zu befürchten haben, werden sie sicher eher auf Zugeständnisse drängen.
Streikdemokratie
Wichtige Erfahrungen hat insbesondere ver.di 2015 in Fragen der Streikdemokratie gesammelt. Der Konflikt bei der Post entsprach weitgehend dem alten Top-down-Muster, wobei sich auch hier an der Basis vielerorts einiges bewegt hat. Im Gegensatz dazu hat ver.di im Sozial- und Erziehungsdienst neue Formen der Beteiligung erprobt – vor Ort, und bundesweit mit den Konferenzen der Streikdelegierten. Ohne diese wären die Ablehnung des Schlichterspruchs und die Nachverhandlungen, die zumindest gewisse Verbesserungen bewirkten, kaum denkbar gewesen.
Ebenfalls innovative Beteiligungsformen nutzte ver.di an der Charité. Vor, während und nach dem elftägigen Streik Ende Juni spielten die sogenannten Tarifberater am Berliner Uniklinikum eine wichtige Rolle: Die von den Stationen entsandten Kolleginnen und Kollegen sorgten für eine enge Anbindung der betrieblichen Basis an den Verhandlungsprozess und stärkten die ver.di-Tarifkommission und -Verhandlungsführung. Noch ist der geforderte Tarifvertrag für mehr Personal nur in Eckpunkten vereinbart. Sollte er vollständig Realität werden, wäre das für die Tarifpolitik von grundsätzlicher Bedeutung: Die Themen Belastung und Gesundheitsschutz wären auch in Form fester Personalquoten tariflich regelbar – etwas, das die Charité-Spitze vor nicht allzu langer Zeit noch vehement und auch auf juristischem Terrain bestritten hat.
Aus den Entwicklungen des Jahres 2015 gibt es viel zu lernen. Erfolge und Misserfolge müssen analysiert, Konsequenzen gezogen werden. Ein Ort hierfür wird die Konferenz »Erneuerung durch Streik« sein, die Anfang Oktober 2016 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung gemeinsam mit gewerkschaftlichen Gliederungen in Frankfurt am Main ausgerichtet wird (http://www.rosalux.de/event/54830).
Dieser Artikel ist zuerst in der Tageszeitung „junge welt“ erschienen.