Betrieb und Gewerkschaft, Hintergrund

Vivantes: Armutslöhne sind politisch gewollt

Mit fast 15.000 Beschäftigten ist Vivantes der größte kommunale Krankenhauskonzern in Deutschland. Der Berliner Senat ist hier, als alleiniger Anteilseigner, verantwortlich für drastische Lohnverluste in den vergangenen Jahren, zuletzt im Bereich der therapeutischen Dienste. Diese Politik des Lohndumpings bleibt nicht unwidersprochen. Kann der Druck auf die regierende SPD im Landtagswahlkampf erhöht werden?

von Christoph Wälz, Berlin

Update: Bericht von einem Gespräch der Vivantes-Therapeut*innen mit Finanzsenator Kollatz-Ahnen am 25.01.2016

Update: Flugblatt von ver.di zur Aktionswoche 08.-12.02.2016

Bei einer RBB-Reportage am 12.10.2015 berichtete ein Vivantes-Kollege aus dem Bereich der Sterilisation, dass er netto 1200 Euro verdient, weil er in einer Tochterfirma des Konzerns angestellt ist. Wäre er beim Stammpersonal, bekäme er netto 800 Euro mehr! Denn regulär wird nach dem Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes (TVöD) bezahlt. Nur wurden mittlerweile 14 Tochterfirmen gebildet, um den Tarifvertrag auszuhebeln.

In vielen Bereichen werden inzwischen neu eingestellte Beschäftigte in eine Tochter abgeschoben. Dort bekommen sie meist befristete Verträge ohne Tarifvertrag. Der Berliner Senat ist damit Vorreiter von Lohndrückerei durch Tarifflucht. Für die Sanierung der öffentlichen Kassen werden immer mehr Beschäftigte gezwungen zu Niedriglöhnen zu arbeiten.

Folgen der Sparpolitik

Hintergrund ist die ungenügende finanzielle Ausstattung der Krankenhäuser durch das Land Berlin. Eigentlich werden die Personalkosten der Krankenhäuser von den Krankenkassen bezahlt, während die Investitionskosten aus den Länderhaushalten beglichen werden. In einem Infoblatt erklärt dazu die „Initiative gegen prekäre Arbeit und tariffreie Bereiche im Verantwortungsbereich des Landes Berlin“:

„Vivantes braucht ca. 85 Mio. € jährlich, um alle notwendigen Investitionen zu bezahlen. In der Vergangenheit hat Vivantes ca. 40 Mio. € jährlich aus den Personalkosten abgezweigt, nur um die dringlichsten Investitionen bezahlen zu können.“

Zum Jahresbeginn 2015 wurde der Kurs auf Niedriglöhne bei Vivantes weiter verschärft. So wurde eine „Therapeutische Dienste GmbH“ gebildet, um die Beschäftigten in Ergotherapie, Logopädie und Physiotherapie zukünftig hier anzustellen. Auch wenn Fristverträge auslaufen, können Beschäftigte in die Tochter übergeleitet werden – und plötzlich 600 Euro weniger erhalten.

Prekäre Arbeitsbedingungen

Über die Jahre hat so eine Erosion der Arbeitsbedingungen im gesamten Unternehmen stattgefunden. Die Prekarisierung erfasst auch die unmittelbare Patientenversorgung. So werden in der Pflege bei Vivantes in Folge des Fachkräftemangels auch Beschäftigte von Leiharbeitsfirmen eingesetzt. Denn die Ausbildungszahlen nehmen seit längerem ab. Auch wegen der schlechten Arbeitsbedingungen ist der Pflegeberuf zunehmend unattraktiv geworden.

Am Vivantes-Klinikum Neukölln ist nach knapp einem Jahr der Anteil der Beschäftigten in der Therapie-Tochter bereits alarmierend hoch. Betroffen sind oft Kolleg*innen, für die es der erste Job nach der Ausbildung ist. Dabei müssen viele Therapeut*innen zum Berufseinstieg erst mal Schulden abbezahlen. Denn in diesem Berufsfeld sind Schulgebühren von mehreren hundert Euro pro Monat die Regel. Und wenn es darum geht, nach ein paar Jahren eine Familie zu gründen, dann wird es bei den Löhnen, die Vivantes-Töchter zahlen, richtig eng.

Die Beschäftigten haben bei der Betriebsversammlung im März, bei Sitzungen des Aufsichtsrates, wie auch beim SPD-Landesparteitag im Juni gegen die erneute Ausgründung protestiert. (Einen guten Eindruck vermittelt dazu dieses Video von ver.di-TV von einer Protestaktion im März 2015 .) Die Betriebsversammlung erklärte in einer Resolution:

„Wir fordern … die sofortige Rückabwicklung der neugegründeten Tochter ,Therapeutische Dienste GmbH‘. Wir fordern die Geschäftsführung auf keine weiteren Tochtergesellschaften zu gründen und bestehende Tochtergesellschaften wieder in die Vivantes GmbH zu integrieren. Insbesondere dürfen keine Überleitungen nach § 613 BGB durchgeführt werden. Im Unternehmen Vivantes darf es keine tariffreien Bereiche geben. Vivantes ist ein Unternehmen. Alle Beschäftigten brauchen den TVöD! Wir fordern die sofortige Aufnahme von Verhandlungen für einen TVöD für alle. Ver.di steht dafür bereit.“

Der Januskopf der SPD

Die Delegierten des SPD-Landesparteitags haben am 13.06.2015 dann tatsächlich fast einstimmig beschlossen, dass die Therapeutische Dienste GmbH aufgelöst und zurück in die Muttergesellschaft eingegliedert werden soll. In dem beschlossenen Antrag heißt es:

„Die SPD-Mitglieder des Senats und die SPD Fraktion im Abgeordnetenhaus ergreifen die Initiative und setzen sich gegenüber dem Aufsichtsrat und der Geschäftsführung dafür ein, dass die bei Vivantes gegründete Tochter „Therapeutische Dienste GmbH“ wieder aufgelöst wird und die schon eingestellten Therapeutinnen einen normalen Arbeitsvertrag entsprechend dem Tarifvertrag des Mutterkonzerns Vivantes, den Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes erhalten. Des Weiteren setzen sich die SPD-Mitglieder im Senat und die SPD Abgeordnetenhausfraktion dafür ein, dass sofort Tarifverhandlungen für die Übernahme des TVöD für alle Töchter aufgenommen werden. Sie setzen sich dafür ein, dass Vivantes die notwendigen Investitionsmittel erhält, um die Finanzierung zu gewährleisten.“

Der RBB hakte nun nach, wie es mit der „Initiative“ der SPD aussieht. Am 12.10.2015 hieß es dazu: „Papier ist geduldig. Bisher geschah nichts. Weder der Vorsitzende Jan Stöß noch Fraktionschef Rahed Saleh wollten sich gegenüber rbb online dazu äußern.“

SPD reagiert auf Druck

Im September 2016 wird das Abgeordnetenhaus in Berlin neu gewählt. Im nun anstehenden Wahlkampf ist die SPD, die in Berlin in einer Koalition mit der CDU regiert, offenbar anfällig für Druck von Betroffenen der Sparpolitik. Sie will nicht dastehen als das, was sie ist: als Partei der prekären Beschäftigung, des kaputtgesparten Öffentlichen Dienstes und galoppierender Mieten. Gerade erst wich die SPD in der Mietenpolitik zurück. Sie sah sich hier mit einer gut organisierten Initiative konfrontiert, die einen Volksentscheid durchsetzen wollte.

Die Initiative erklärte:

„Nur durch den Druck jahrelanger stadtpolitischer Kämpfe und letztendlich der knapp 50.000 Unterschriften hat sich im Senat etwas bewegt. Nur dadurch hat die SPD die Forderungen unserer Initiative zum Mietenvolksentscheid teilweise aufgegriffen und in Gesetzesform gebracht. Und nur dadurch hat sich die CDU dazu bewegen lassen, diesen Schritt mitzugehen. Die vielen Unterstützer*innen, welche sich eine einseitige Wohnungspolitik für Investor*innen nicht länger gefallen lassen wollen, konnte der Senat nicht mehr ignorieren.“

Dieser Teilerfolg macht Mut: Eine kämpferische unabhängige Bewegung kann etwas erreichen. Lässt sich diese Erfahrung auch auf andere Bereiche übertragen? Die GEW Berlin will zum Beispiel in den nächsten Monaten Druck machen für einen Tarifvertrag für angestellte Lehrkräfte. Außerdem haben sich Aktive aus einer Vielzahl von Unternehmen im Verantwortungsbereich des Landes Berlin (u.a. von Vivantes) in einer Initiative zusammengeschlossen, um ihre betrieblichen und gewerkschaftlichen Aktivitäten zu koordinieren. Die Initiative hat bereits erreicht, dass ver.di und GEW eine Konferenz des DGB gegen prekäre Arbeit und tariffreie Bereiche im Verantwortungsbereich des Landes unterstützen. Damit soll im Wahlkampf der Druck aus verschiedenen Bereichen prekärer Beschäftigung gebündelt werden.

Am 05. November organisierte ver.di gemeinsam mit der Initiative – und unterstützt durch die GEW – eine sehr erfolgreiche Konferenz mit über 150 Teilnehmer*innen. Aktive aus vielen Bereichen – Vivantes, Charité/CFM, Botanischer Garten, Technikmuseum, Kinder- und Jugend-Ambulanzen, Flughäfen, Volkshochschulen, Musikschulen, freie Träger der Sozialarbeit, Lehrbeauftragte der Hochschulen u.a. – berichteten hier über ihre prekäre Situation und ihre Proteste. Mit einer abschließenden Resolution wurde beschlossen, einen gewerkschaftlichen Aktionsausschuss gegen prekäre Beschäftigung zu gründen, um weitere Aktivitäten zu koordinieren.

Perspektiven für den Widerstand

Wird sich bei diesen politisierten Kämpfen ein ähnlicher Druck wie beim Mietenvolksentscheid entwickeln lassen? Das Thema Miete betrifft unmittelbar mehrere Millionen Bewohner*innen der Hauptstadt. Durch die Entwicklungen der letzten Jahre gibt es ein hohes Problembewusstsein. Der Senat sah mit der im Frühjahr 2015 anrollenden Mieten-Initiative eine oppositionelle Lawine auf sich zukommen, die auch noch von der LINKEN unterstützt wurde. Rechtzeitig vor der Wahl musste diese Entwicklung ausgebremst werden.

Aber auch das Thema prekäre Beschäftigung betrifft nicht mehr nur Randgruppen. Unsichere Arbeitsbedingungen und ungleiche Bezahlung gleicher Arbeit sind zu einem Massenphänomen geworden, besonders in Berlin. Es besteht die Chance, hier Druck zu entfalten, wenn koordiniert vorgegangen wird. Die Blockadehaltung der Arbeitgeber gegenüber Tarifverhandlungen kam zum Beispiel beim Technikmuseum daher, dass ein Durchbruch befürchtet wurde, der Nachahmer finden könnte. Es geht also darum, die Vereinzelung zu überwinden und Druck für möglichst weitgehende Zugeständnisse in vielen Bereichen zu erzeugen. Eine generelle politische Umkehr ist nötig: Der Staat muss wieder die uneingeschränkte Verantwortung für die öffentliche Daseinsvorsorge übernehmen. Die Vernetzung Betroffener und die Veranstaltung von ver.di sind wichtige Schritte, um in diese Richtung voranzukommen.

Auf betrieblicher Ebene ist es für ver.di essentiell, den Organisierungsgrad zu erhöhen und die Streikfähigkeit zu entwickeln. So geht es bei den einzelnen Vivantes-Töchtern darum, den Effekt der Ausgründung – die Lohnabsenkung – wieder rückgängig zu machen: TVöD für alle!

Auf politischer Ebene hat DIE LINKE die Chance, sich eindeutig an der Seite der Beschäftigten zu positionieren, deren Aktionen zu unterstützen und eine politische Perspektive jenseits von Sparpolitik und Schuldenbremse anzubieten. Der politische Druck auf die SPD, ihren eigenen Beschluss gegen die Tarifflucht bei den Therapeutischen Diensten umzusetzen, könnte so – gerade im Wahlkampf – erhöht werden.

Der Artikel wurde gekürzt veröffentlicht in der Zeitung der LINKEN.Neukölln (Neu-Köllnisch 11-12/2015, Seite 8 ).

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