Debatte, Die Linke und die Macht, Internationales

Mit Piketty aus der (Griechenland-)Krise?

Nachdem die Thesen von Thomas Piketty 2013/2014 in den USA und in Westeuropa hoch und runter diskutiert wurden, hat sich der französische Ökonom auch in die Griechenland-Debatte eingemischt. In einem Interview für die „Zeit“ greift er die harte Haltung der deutschen Regierung als „konservative, irrationale Schuldenpolitik“ an. Gerade Deutschland, so Piketty, „das Land, das nie seine Schulden bezahlt hat“, und sogar an der Griechenland-Krise verdiene, sei zu einer anderen Politik verpflichtet. Er fordert einen Schuldenschnitt für Griechenland, eine Konferenz über die Gesamtschulden Europas und die demokratische Erneuerung der europäischen Institutionen.

von Björn Kaczmarek

In eine ähnliche Richtung weist zudem ein offener Brief vom 7. Juli 2015, den Piketty mit vier weiteren Wirtschaftswissenschaftlern an die deutsche Regierung richtete und der unter anderen den Chefökonomen des Bundesfinanzministeriums – Ludger Schuknecht – gezwungen hat, sich öffentlich zu der Kritik zu äußern.

Die Debatte von 2013/2014

Mit seiner Intervention in die Debatte knüpft Piketty an den von ihm in dem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ formulierten Ideen an. Das Werk hatte bei Veröffentlichung 2014 in den USA einen regelrechten Hype ausgelöst und eine weltweite Debatte angestoßen, monatelang stand es auf den Bestsellerlisten.

Diese Debatte fand vor dem Hintergrund der schwersten Finanz- und Wirtschaftskrise seit knapp achtzig Jahren statt. Die bis dahin herrschende neoliberale Wirtschaftspolitik stand vor einem Dilemma, denn sie hatte offensichtlich versagt. Doch nicht nur das Dogma des Neoliberalismus wurde damit in Frage gestellt, sondern zunehmend auch das kapitalistische System insgesamt. Die Offenheit und Unterstützung für längst totgesagte, System überwindende Ideen nahm zu. So feierte beispielsweise das Werk von Karl Marx 2008/2009 ein vielzitiertes Comeback.

Auch innerhalb der Kapitalistenklasse entwickelte sich eine Debatte darum, ob und wie die Wirtschaftspolitik „besser“ gestaltet und die Legitimationsgrundlage des Kapitalismus erneuert werden könne. Das bis dahin recht einheitliche ökonomische Leitbild wurde durch mehrere, sich widersprechende ersetzt. Diese verschiedenen Standpunkte werden seitdem immer wieder in den Debatten sichtbar, sei es in Fragen von Verstaatlichungen, Haushaltspolitik („Schwarze Null“) oder der Eurokrise. Vor diesem Hintergrund konnte dann auch der Stern von Piketty aufsteigen, in den USA befördert durch den populären Neokeynesianer Paul Krugman.

Bemerkenswert an dem Erfolg Pikettys ist, dass seine Ideen im Grunde simpel und seine Vorschläge eigentlich harmlos sind. Sie setzten aber an einer bereits bestehenden Stimmung, dass der Reichtum ungerecht verteilt sei und außerdem stärker besteuert werden müsse, an. Der Erfolg Pikettys war unter anderem von dieser Stimmung getragen.

In seinem Buch betrachtet Piketty die Entwicklung von Einkommen und Vermögen. Die zunehmende Ungleichheit und Konzentration von Reichtum in den Händen von einigen Wenigen sieht er als eine Gefahr für Konjunktur und Stabilität. Ein wesentlicher Aspekt seiner Untersuchungen ist der Vergleich von Kapitalrenditen und Wirtschaftswachstum, wobei er eine Tendenz ausmacht, dass erstere sich schneller entwickeln als letzteres. (Die daraus resultierende Formel r > g wurde von besonders eifrigen Piketty-Fans sogar auf T-Shirts gedruckt). Und damit einhergehend bildet sich – wie Piketty kritisiert – eine Schicht von Supereichen aus, die nicht mehr von einem Leistungsgedanken getrieben werden, sondern nur noch auf ihren wachsenden Geldsäcken sitzen. Besonders diesen Punkt betrachtet Piketty als Konjunktur- und Stabilitätsproblem. Deshalb setzt er sich für eine stärkere Besteuerung von Vermögen ein. Eine Forderung, die auch von vielen Linken unterstützt wird. Seine Ideen versteht der Ökonom als Lösungsvorschläge für einen „produktiven“ Kapitalismus, in dem Leistung und nicht Besitz von Vermögen zählt.

Pikettys Vorschläge bewegen sich somit – darauf ist bereits vielfach hingewiesen worden – im Rahmen des Kapitalismus und ihnen liegt auch ein Irrtum zu Grunde. Denn der Widerspruch zwischen Einkommen und Vermögen ist nicht begründet in „kluger“ und „unkluger“ Wirtschaftspolitik. Der Kapitalismus selbst ist Verursacher der Ungleichheit und Krisen. In diesem Sinne können diese Erscheinungsweisen nicht durch intelligenteres Management gelöst werden. Dieser Trugschluss Pikettys ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass er seine Appelle an Regierende richtet, mit der Aufforderung zur Einsicht und Vernunft, wie beispielsweise in dem oben erwähnten offenen Brief.

Piketty orientiert nicht auf soziale Kämpfe und hat häufig darauf hingewiesen, dass er seine Ideen nicht als Aufruf zum Klassenkampf verstanden wissen will. „Um es deutlich zu sagen, mein Ziel ist nicht die Sache der Arbeiter gegen die Besitzenden zu vertreten, sondern ein möglichst klares Bild von der Wirklichkeit zu erhalten.“ Die Arbeiterklasse spielt für ihn bei der Durchsetzung beispielsweise von höheren Steuern für Reiche keine aktive Rolle. Ingo Stützle und Stephan Kaufmann schreiben dazu sehr treffend in ihrem Buch „Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre“ (S. 100): „Bleiben die Zwangsmaßnahmen der sozialen Kämpfe in der Krise aus, dann können dem Staat keine Zugeständnisse abgerungen werden, dann bleibt Politik die Politik des Kapitals – und auch für bescheidene Ziele wie eine Vermögenssteuer Illusion. Für Linke bleibt dann nur die Hoffnung, dass ihre Argumente gehört werden, selbst wenn sie von liberalen Ökonomen wie Piketty vorgetragen werden. Das ist wohl einer der Gründe, warum die Aufmerksamkeit für solche Bücher auch bei der Linken derart groß ist. Ob sich allerdings die Dinge in die richtige Richtung bewegen, darüber entscheiden nicht so sehr Bestseller und Feuilletondebatten, sondern soziale Kämpfe.“

Insofern beschreibt Piketty zwar bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten und stützt seine Beobachtungen mit einer Vielzahl von Fakten und Daten. Mit dem Ruf als renommierter Wirtschaftsprofessor verleiht er damit den Aussagen von Linken von der sich weiter öffnenden Schere zwischen Arm und Reich Gewicht. Als Anleitung zum Handeln dagegen eignet sich das „Kapital im 21. Jahrhundert“ kaum.

Zurück zur Griechenland-Krise

All der Begrenzungen zum Trotz finden die Vorschläge aber eine Menge Unterstützung. Obwohl Piketty nicht auf soziale Kämpfe als Mittel der Veränderung setzt, öffnet er mit seinen Ausführungen und Ideen doch eine Debatte. Seine Vorschläge finden ihren Ausdruck auch unter Aktivisten sozialer Bewegungen und linker Organisationen. Die Vorstellungen Pikettys stehen im Gegensatz zu denen, die Sparzwang und Austerität predigen und seine Untersuchungen geben Aktiven durchaus Argumente und Beispiele an die Hand, um die Argumentation der Regierenden – es gäbe keine Alternative zur jetzigen Politik – der Lüge zu überführen und sie moralisch zu delegitimieren.

So zeigt er mit seinem Hinweis beispielsweise auf einen Schuldenerlass für Deutschland in der Vergangenheit auf (Schuldenkonferenz 1953, auf der 60% der deutschen Schulden Auslandsschulden annulliert wurden), dass historisch eine Alternative zum Spardiktat bestand und auch jetzt existieren könnte. Wie oben bereits erwähnt schlägt Piketty im Wesentlichen drei Maßnahmen zur Überwindung der Griechenland-Euro-Krise vor: Schuldenschnitt für Griechenland, eine Konferenz über die Gesamtschulden Europas und die demokratische Erneuerung der europäischen Institutionen.

Gut daran ist, dass Piketty durch seine Intervention die Heuchelei vor allem der deutschen Regierung bloßstellt. Er und seine Kollegen benennen in ihrem offenen Brief die Lage in Griechenland mit deutlichen Worten: „Die humanitären Auswirkungen sind kolossal: 40 Prozent der Kinder leben nun in Armut, die Säuglingssterblichkeit ist in die Höhe geschossen und die Jugendarbeitslosigkeit liegt bei fast 50 Prozent. Korruption, Steuerflucht und falsche Buchführung der Vorgängerregierungen in Griechenland haben zu diesem Schuldenproblem beigetragen. Doch die Griechen haben Ihre Sparpolitik befolgt – sie haben Gehälter, Regierungsausgaben und Renten gekürzt, privatisiert, dereguliert und die Steuern erhöht. Die Serie der sogenannten `Anpassungsprogramme´, denen sich Griechenland und andere unterziehen mussten, hat Auswirkungen, die man seit der Weltwirtschaftskrise 1929 bis 1933 in Europa nicht mehr gesehen hat. Die Medizin, die in Berlin und Brüssel zusammengebraut wird, ist schlimmer als die Krankheit selbst. Sie schadet sogar denjenigen, die zu Beginn der Krise noch nicht einmal geboren waren.“

In dem bereits erwähnten Zeit-Interview weist Piketty zudem darauf hin, dass „Deutschland“ keineswegs Gönner, sondern Profiteur der Griechenland-Krise ist. Auf die Frage: „Glauben Sie, dass wir Deutschen nicht großzügig genug sind?“ antwortete Piketty: „Was reden Sie da? Großzügig? Deutschland verdient bisher an Griechenland, indem es zu vergleichsweise hohen Zinsen Kredite an das Land vergibt.“ Dem sei hinzuzufügen, dass ein Großteil der sogenannten „Hilfspakete“ direkt an die Gläubiger fließt. Von den erzwungenen Privatisierungen profitieren – wie im Falle von Fraport – unter anderem deutsche Firmen.

Aber hier zeigt sich auch wieder der Widerspruch des Phänomens Piketty: einerseits öffnen seine Interventionen im positiven Sinne Diskussionen, gleichzeitig aber sind die Vorschläge auch so begrenzt, dass man sich schon fast wundert, dass sie dermaßen viel Widerhall erfahren. Sein Vorschlag für einen Schuldenschnitt stellt sich als eine Restrukturierung oder Teilentschuldung dar. Doch selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) spricht von der Notwendigkeit eines Teilschuldenerlasses, da er eine wirksame Entschuldung sonst nicht für möglich hält. Die weiteren Vorschläge – Schuldenkonferenz und Demokratisierung der europäischen Institutionen – basieren auf der Vorstellung einer europäischen egalitären Solidargemeinschaft.

Doch wie nicht nur die griechische Arbeiterklasse in den letzten Jahren zu spüren bekommen hat, ist die EU keine Solidargemeinschaft, sondern ein Zusammenschluss konkurrierender kapitalistischer Staaten. Darum bleibt der Widerspruch zwischen starken und schwachen Staaten bestehen und hat in der jetzigen Krise nicht ab- sondern zugenommen. Doch auch innerhalb der Nationalstaaten steigen die Widersprüche zwischen Arm und Reich. Die Losung der Arbeiterbewegung, dass die Grenzen nicht zwischen den „Völkern“, sondern zwischen „oben“ und „unten“ verlaufen, bewahrheitet sich auch in der EURO-Krise. In Irland beispielsweise, das die Bürgerlichen von Gauck bis Schäuble häufig als Vorzeigepatient einer erfolgreichen „Rettung“ im Munde führen, wurde und wird die Arbeiterklasse in Form von Kürzungspaketen und Extra-Steuern in einem Volumen von 31 Milliarden Euro zu Kasse gebeten, während sich der Reichtum der reichsten 300 in den letzten fünf Jahren um 34 Milliarden EURO steigern konnte. Die Ungleichheit ist der EU seit ihrem Bestehen einprogrammiert. Sie ist seit jeher ein Projekt der herrschenden Klassen. In der Krise ist dies nur umso deutlicher zu Tage getreten.

Untrennbar verknüpft mit dieser Frage ist die Währungsfrage. So wie Piketty die EU für eine nur von falscher Politik auf den falschen Pfad gekommene Gemeinschaft hält, so meint er, der EURO sei eine „Gemeinschaftswährung“ und bekennt sich ausdrücklich zu ihm.

Innerhalb der europäischen Linken hat seit der Unterwerfung der Tsipras-Regierung unter das Schuldendiktat eine Diskussion über den Verbleib Griechenlands in der EURO-Zone begonnen, da weitere Kürzungen, Verelendung und das Unterlaufen demokratischer Prozesse aufs Engste mit dem Verbleib im EURO verbunden sind.

Diese Debatte spiegelt sich auch in der LINKEN wider. In den vergangenen Wochen äußerten sich verschiedene LINKE-Mitglieder äußerst kontrovers. Während die Parteivorsitzenden Bernd Riexinger und Katja Kipping die Reformierbarkeit der Währungsunion betonten, kamen auch öffentliche Zweifel an der bisherigen Position der LINKEN auf. Die designierte Fraktionsvorsitzende der Linksfraktion im Bundestag Sahra Wagenknecht sorgte mit Äußerungen zu einem Grexit von links für Furore: „Die Währungsunion verengt die Spielräume der einzelnen Regierungen bis zu Handlungsunfähigkeit. Das ist eine europaweite Abschaffung der Demokratie durch die Hintertür. Deshalb muss die Linke die Debatte führen, ob sie sich dieser Logik weiterhin ausliefern will oder sich lieber für ein anderes Finanz- und Währungssystem stark macht“, sagte Wagenknecht und weiter: „Der EURO funktioniert nicht.“

Die Bundestagsabgeordnete Nicole Gohlke und die stellvertretende LINKE-Vorsitzende Janine Wissler schreiben in einem Beitrag für die Tageszeitung „neues deutschland“, dass „linke Politik künftig nur noch gegen die EU-Institutionen und – als sozialistische Regierungspolitik in der Peripherie Europas – wohl nur noch außerhalb des Korsetts der EURO-Gruppe möglich ist.“

Ein linker Grexit?

Die EU erpresst die griechische Regierung mithilfe des EURO, denn sie bestimmt, ob und wie das Geld fließt. Die Herrschenden in der EU beherrschen auch die „Gemeinschafts“währung, der EURO ist offensichtlich kein Werkzeug zur Überwindung nationalstaatlicher Grenzen, sondern ein Erpressungsinstrument. Zur Diskussion um einen Grexit hat Piketty aber nicht mehr viel beizutragen. Er belässt es bei dem Bekenntnis zur „Gemeinschafts“währung. Sollte es zu einer Umsetzung seiner Vorschläge zur Lösung der Griechenland-Krise kommen, würde das höchstens zu einer gewissen Lockerung des Würgegriffs um Griechenland führen und selbst um das zu erreichen, wäre ein enormer Druck von der griechischen Arbeiterklasse und europaweit notwendig. Bei der Schuldenfrage kann es nicht um einen Schuldenschnitt, sondern muss es um die komplette Schuldenstreichung ohne Gegenleistungen in Form von weiteren „Reform“programmen gehen.

Stattdessen müssten, um eine wirkliche Verbesserung zu erreichen, Wahlversprechen, mit denen Syriza einst angetreten ist, umgesetzt werden. Und mehr noch: Es braucht staatliche Investitionen in die Wirtschaft, Verstaatlichung von Betrieben und Banken, ein Außenhandelsmonopol des Staates. Aus der ganzen Funktionsweise der EU ergibt sich aber, dass die EU-Institutionen einem solchen Programm, einem Hilfsprogramm also, das diesen Namen verdient, nie zustimmen würden. Verbesserungen rücken nur dann in erreichbare Nähe, wenn man den Rausschmiss aus dem EURO in Kauf nehmen würde. Oder weiter noch: eine eigene Währung ist sogar notwendig, um die Macht über die eigenen Geschicke überhaupt erlangen zu können. Die Frage des Grexit allein löst das Problem Griechenlands natürlich nicht, aber gleichzeitig ist es auch nicht möglich, ein sozialistisches Programm für Griechenland ohne diese Frage aufzustellen.

Daher ist die nun begonnene Debatte in der LINKEN zu begrüßen.

Lesetipps:

Kapitalismus: Die ersten 200 Jahre (Kaufmann / Stützle, 2015)

DIE LINKE und der Grexit (sozialismus.info, 09.08.2015)