Ein Gespräch über Flucht, Asyl, konkrete Hilfe und politische Forderungen. Für „Lernen im Kampf“ sprach Nelli Tügel mit László Hubert, 57 Jahre alt, aktiver Gewerkschafter bei ver.di und einer der Sprecher von „Moabit hilft“.
Das folgende Interview wurde am 23.08.2015 geführt. In den seitdem vergangenen Tagen haben Drohungen gegenüber und Angriffe auf geflüchtete Menschen, Unterkünfte aber auch Unterstützer_innen weiter zugenommen. Während sich ein Teil der Bundesregierung betroffen zeigt, bereitet der Innenminister Thomas De Maizière bereits weitere Einschränkungen des Asylrechtes im Eilverfahren vor (u.a. durch Anerkennung weiterer sogenannter sicherer Herkunftsstaaten). Ganz richtig erklärte der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) dazu in einer Pressemitteilung vom 24.08., dass „wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will“, Flüchtlinge „nicht in `gute´ und `schlechte´ einteilen“ dürfe. Vor dem Hintergrund der wachsenden konkreten Bedrohung durch Nazis und Rassisten denken wir, dass eine von Gewerkschaften, LINKE und den inzwischen zahlreichen Initiativen von Geflüchteten und Unterstützer_innen organisierte Großdemonstration einen sinnvollen Schritt darstellen könnte, aus der Defensive zu kommen und der wachsenden Pogromstimmung entschlossen entgegen zu treten.
László, seit Wochen ist der Berliner Stadtteil Moabit bundesweit bekannt. Hier liegt das LaGeSo (Landesamt für Gesundheit und Soziales), in dem sich alle nach Berlin kommenden Asylsuchenden registrieren lassen müssen. Als es bis zu 40 Grad heiß war, mussten hunderte Menschen tagelang ausharren, um überhaupt einen Termin zu bekommen. Es gab für sie kaum Wasser, keine medizinische Versorgung und auch keine Unterkunft mehr. Da fing euer Engagement an. Was habt ihr gemacht?
Am 6. und 7. August haben wir begonnen, vereinzelt Getränke zum LaGeSo zu bringen, denn es war ja wahnsinnig heiß. Am Freitag, den 7. August, kam es dort zu einem Polizeieinsatz, weil mehrere junge Männer nach Tagen in der Hitze die Schnauze voll hatten und versuchten, ins LaGeSo zu gelangen. In diesen Tagen haben Menschen hier im Umkreis auf der Straße übernachtet. Am darauffolgenden Montag haben wir dann angefangen, die Leute mit Mahlzeiten zu versorgen, sehr schnell hat sich eine Struktur herausgebildet. Wir haben Spendenannahme und Spendenausgabe professionalisiert und begonnen, dafür Räumlichkeiten auf dem LaGeSo-Gelände zu nutzen. Stullenpakete, Wasser und Obst wurden von uns verteilt.
Es kamen immer mehr Leute, die spenden und helfen wollten. Dann haben wir begonnen, eine Kinderbetreuung einzurichten, die von Tag zu Tag besser ausgestattet war. Da mussten wir dann sogar etwas dazwischengehen. Helfer wollten hier anfangen Musik zu machen und so, wir können das aber nicht zu sehr zum Volksfest werden lassen, unter anderem weil hier auch das Zentrum für traumatisierte Folteropfer ist. Ich habe Kinder bei knallenden Luftballons in Deckung springen sehen…
Stück um Stück haben wir eine medizinische Betreuung aufgebaut, inzwischen in einem festen Gebäude, freiwillige Ärzte und medizinisches Personal gehen jetzt herum und helfen, die Menschen zu versorgen. Eine Aufgabe, die wir auch übernehmen, ist es, Leute, die hier abends oder nachts ankommen, zu versorgen und ihnen Schlafplätze zu vermitteln. Dies gilt auch für Menschen, die von der LaGeSo mit Hostelgutscheinen ausgestattet werden, die kaum noch eingelöst werden können.
Das ist alles nicht immer einfach, viele Leute haben Angst. Als Busse herkamen und die Menschen in Unterkünfte bringen sollten, ging das Gerücht um, die Busse seien zum Abschieben da. Hier vorm Haus gab es einen Selbstmordversuch. Es gab eine schwere Sepsis, eine Fehlgeburt, einen Mann, der mit einer angerissenen Achillessehne den Warteraum nicht verlassen wollte um sich behandelt zu lassen, weil er Angst hatte, seine Nummer zu verlieren.
Ihr habt innerhalb kürzester Zeit eigentlich staatliche Versorgungsaufgaben übernommen und professionalisiert. Und wie ist die Situation jetzt? Wie geht’s denn weiter?
Die medizinische Versorgung soll übernommen werden, auch weil sich sogar die Ärztekammer Berlin eingemischt und die Zustände als unhaltbar kritisiert hat. Die Nahrungsversorgung soll künftig der Senat erbringen. Wie es sonst weitergeht, das wissen wir auch nicht. Der Ist-Zustand ist ein wenig besser als noch vor drei Wochen. Einfach auch, weil wir die Behörden ganz schön vor uns her getrieben haben.
Unsere Arbeit ist natürlich schon mit der Duldung der LaGeSo geschehen, aber wir haben auch gespürt, dass es Vorbehalte gegen uns gibt. Gleichzeitig sind die Mitarbeiter am LaGeSo auch dankbar, weil sie merken, dass wir die Situation verbessert haben. Die sind einfach froh, dass es hier jetzt etwas entspannter abläuft.
In der öffentlichen Diskussion ist viel von „Chaos“ und „Überforderung“ die Rede. Doch es war schon lange klar, dass zum Sommer hin mehr Flüchtlinge nach Europa und Deutschland kommen würden. Woher kommt dann die „Überforderung“?
Ja, wenn man hier steht, dann merkt man, dass es einfach zu wenig Personal am LaGeSo gibt, zu wenige Unterkünfte, von allem zu wenig. Die sind jetzt schon überfordert. An einem Spitzentag hatten wir 2000 Leute hier, 1200 allein zur Registrierung, darauf mussten einige tagelang warten und auf der Straße schlafen. Überraschend kommt das alles aber nicht. Die Konflikte, die die Leute hierher treiben, sind ja nicht neu. Warum man das nicht gesehen hat, ist mir ein Rätsel. Den Personalaufwand hätte man bei einer vorausschauenden Politik berechnen können. Das wurde alles nicht gemacht. Für die zukünftige Nahrungsmittelversorgung muss das Geld aus anderen Senatsressorts zusammengekratzt werden. Und da denkt man doch: es wurde darauf spekuliert, das instrumentalisieren zu können. Damit es dann heißt: „Seht alle her, wir sind überfordert. Das Boot ist jetzt mal voll.“
Lass uns über die politische Dimension sprechen. Denn konkrete Hilfe ist die eine Seite, aber die Situation schreit nach einer politischen Lösung. Von den Verantwortlichen in Senat, Regierung und auf EU-Ebene kommen Vorschläge, die zeigen, dass keiner gewillt ist, an der Abschottungspolitik Europas im Grundsatz etwas zu ändern. Was kann denn eine politische Antwort jenseits davon sein?
Mit unserer konkreten Hilfe hier vor Ort wollen wir den Menschen, die es bis hierher geschafft haben, erstmal ermöglichen, ihr Recht überhaupt wahrnehmen zu können. Wer vor dem LaGeSo kollabiert, der kann keinen Asylantrag stellen. Wir haben hier einiges an bürokratischem Prozedere mitbekommen, das wirklich heftig ist. Zum Beispiel werden die Menschen über einen Computer verteilt, der gar nicht hier steht. Wenn jemand an einen bestimmten Ort nicht möchte, wird das gar nicht berücksichtigt, null Chance.
Wir müssen aber auch eine Diskussion eröffnen über die sogenannten sicheren Herkunftsländer. Viele von den Leuten, die aus diesen Staaten kommen, sind Roma oder Sinti. Und die Leute, die behaupten, dass diese dort nicht verfolgt würden, sind entweder unwissend, dumm oder Rassisten. In den meisten dieser Länder ist Antiziganismus fest in der Gesellschaft verankert und unhinterfragte Normalität. Die Aufteilung in „Wirtschaftsflüchtlinge“ und „echte“ Flüchtlinge lehnen wir ab. Das spielt auch in unserer Arbeit keine Rolle, bei uns bekommen alle Unterstützung.
Und weiter: Es braucht sichere und legale Einreisemöglichkeiten in die EU. Dieser Zustand, dass Menschen einen Haufen Geld einsetzen müssen und ihr Leben gefährden, damit sie europäischen Boden betreten und hier ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen können, ist einfach unhaltbar.
Was wir momentan erleben, geht aber noch darüber hinaus. Es ist die Kehrseite der Globalisierung, die Ursache ist der Kapitalismus mit all seinen Folgeerscheinungen. Wir haben es mit einer Völkerwanderung zu tun, die unter anderem der katastrophalen und dummen Politik des Westens geschuldet ist. Wirtschaftliche Ausbeutung wie in Nigeria, Kriege wie in Afghanistan und Irak, Waffenexporte, Unterstützung von Diktaturen… Fast alle Flüchtlinge wollen ihre Heimat nicht verlassen, sind aber von Krieg, Armut oder Diktaturen dazu gezwungen.
Der Westen hat mit all dem viel mehr zu tun, als es die Verantwortlichen eingestehen. 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die meisten sind Binnenflüchtlinge. Im Vergleich zum Libanon, wo ein Viertel der Menschen inzwischen Flüchtlinge sind, oder zur Türkei, wo zwei Millionen Flüchtlinge leben, ist der Beitrag der Bundesrepublik Deutschland doch ein Witz.
Trotz großer Unterstützung aus der Bevölkerung in Moabit gibt es auch die andere Seite. Jeden Montag zieht Bärgida, der Berliner Pegida-Ableger, durch Moabit.
Hier im Bezirk lehnen viele Bärgida ab. Auf der ersten Gegendemo in Moabit waren mehr als 1000 Menschen. Aber die Bereitschaft, sich jeden Montag den Bärgidas entgegen zu stellen ist nicht so hoch, das sind weniger geworden. Das Bedürfnis der Menschen, sich hier für Geflüchtete zu engagieren und einzubringen ist trotzdem enorm groß.
Vielleicht auch ein Ausdruck von Politikverdrossenheit? Denn es gibt ja wirklich eine große Bereitschaft, politische Haltungen eher karitativ auszudrücken. Statt Demos gibt es Spendensammlungen…
Es gibt eine gewisse Ratslosigkeit, wie man politisch in der Frage weiterkommen kann, ein Gefühl der Vergeblichkeit, denn das Thema ist sehr „groß“. Da sind dann die gesellschaftspolitischen Kräfte gefragt. Ich denke an DIE LINKE und Gewerkschaften, die sich viel stärker für die Menschen einsetzen müssten, die den Weg zu uns geschafft haben. Besonders die Gewerkschaften geben sich aber sehr zurückhaltend bei dem Thema.
Du bist auch aktiver Gewerkschafter. Geflüchtete sind genauso wie wir vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängig. Aber die Gewerkschaften sind – du hast es gerade selbst gesagt – erstaunlich still bei diesem Thema. Warum?
Die Gewerkschaften betrachten das Thema offensichtlich nicht als ihr eigentliches Kerngebiet. Einen guten Grund dafür gibt es aus meiner Sicht eigentlich nicht. Es würde enorm helfen, wenn beispielsweise ver.di sich stärker äußern und die eigene Öffentlichkeit in dieser Debatte mehr nutzen würde um den De Maizières in der Diskussion die Meinungsführerschaft streitig zu machen.
Die Reaktionen der Bevölkerung auf die nach Deutschland kommenden Migrantinnen und Migranten sind sehr unterschiedlich. Immer wieder gibt es Anschläge und rechte Demos, andernorts – wie in Moabit – beeindruckende Solidarität, Selbstorganisation und Hilfsbereitschaft. Ist Sachsen einfach braun oder woran liegt‘s?
Das ist vor allem staatliches Versagen. Jahrelang waren Politik und Staat auf dem rechten Auge blind und haben die rechten Strukturen wachsen und gedeihen lassen. Und einigen Verantwortlichen kommt es jetzt zupass, dass es da so kracht, anderen geht es zu weit. Jetzt bekommen zum Teil sogar schon CDU-Politiker die Früchte dieser Politik zu spüren. Wer glaubt, Nazis instrumentalisieren zu können ist auf dem Holzweg, die haben ihre ganz eigene Agenda und die ist mörderisch. Dort, wo sich die Bevölkerung engagiert und Initiativen Angebote machen – wie hier in Moabit – da ist die Solidarität groß.